Der private WM-Boykott des Steffen Dobbert – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien

Veröffentlicht am: 8. Juni 2018

Fußballweltmeisterschaft – und auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. Nicht immer mit zutreffenden Argumenten. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Erinnern Sie sich noch an Steffen Dobbert? Jawohl, der Qualitätsjournalist von ZeitOnline, der letzten November im ehemaligen Flaggschiff der Entspannungspolitik Ronald Pofalla (journalistisch) verprügelte, um den „Petersburger Dialog“ zu erledigen“!1 Falls Sie sich fragen sollten, wie es ihm so geht, kann eine erfreuliche Nachricht vermeldet werden: Er wird die nächsten Wochen noch mehr Freizeit für seine Tochter haben.

Dobbert hat sich nämlich – und das ist ihm, wie er glaubhaft darlegt, erkennbar schwer gefallen – zu einem privaten Boykott der Fußballweltmeisterschaft in Russland durchgerungen. Es muss kein leichter Entschluss gewesen sein, schließlich konnten „drei Kreuzbandoperationen im Knie mir meine Begeisterung für diesen Sport nicht nehmen“ und für den Sportästheten ist „eine saubere Grätsche schöner als ein echter Picasso“2. Aber was sein muss, muss sein!

Schauen wir uns an, wie er seine schmerzhafte WM-Askese begründet!

Dobbert führt, Sie ahnen es bereits, gleich mal das gesamte bekannte Sündenregister von „Putins Russland“, inclusive der ehemaligen Sowjetunion ins Feld. Leider verheddert er sich, wie immer, dabei ein bisschen.

Es beginnt bereits mit „Russlands Einmarsch“ in Afghanistan am 2. Januar 1980. Lieber Herr Dobbert, falls es sich noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen haben sollte: Russland ist zwar der juristische Nachfolgestaat der Sowjetunion, aber Russland ist und war nicht die Sowjetunion! Den Vorwurf des Einmarsches müssten Sie also konsequenterweise an sämtliche Nachfolgestaaten – inclusive der Ukraine und Georgien – richten! – Dobbert lobt den westlichen Boykott der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau und sieht in ihm ein Vorbild für einen, dieses Mal leider versäumten, Boykott der Fußballweltmeisterschaft in Russland. Schließlich darf „ein Land, das Angriffskriege führt, nicht Gastgeber von Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften sein.“

Selektive Amnesie

Und damit befinden wir uns schon im zweitem Kapitel des ganzen Elends. Nach Dobberts gestrenger gesinnungsethischer Logik hätte dann natürlich auch die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland nicht stattfinden dürfen, sprich: unser Land wäre um ein Sommermärchen ärmer! Schließlich hatte sich das wiedervereinigte Deutschland vor 19 Jahren, im Frühjahr 1999, ausgerechnet in seinem ersten Kampfeinsatz an der ohne UN-Mandat vollzogenen Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO beteiligt. Gleiches hätte selbstverständlich dann auch für die Weltmeisterschaft 2010 in Spanien, die Olympischen Sommerspiele 2012 in London und die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City 2002, Turin 2006 und Vancouver 2010 gegolten. Alles NATO-Staaten, die ebenfalls mitgemacht hatten! An einen Boykottaufruf des Qualitätsjournalisten kann ich mich nicht erinnern.

By the way: Den von George W. Bush und seiner Koalition der Willenlosen mit ‚Fake News‘ begründeten Angriffskrieg auf den Irak hat der offenkundig an selektiver Amnesie leidende Dobbert anscheinend völlig vergessen! Auch deshalb hätten, seiner Logik nach, die Winterspiele in Salt Lake City niemals stattfinden dürfen. Aber werfen wir ihm sein Hantieren mit doppelten Standards nicht vor. Schließlich gehört dies in Deutschland mittlerweile zur qualitätsjournalistischen DNA!

Nebelkerzen

Im Folgenden zählt Dobbert akribisch sämtliche militärischen Auseinandersetzungen auf, an denen Russland bislang beteiligt war und dabei geht mal wieder alles kunterbunt drunter und drüber:

Nach der bewaffneten Auseinandersetzung um Transnistrien und im Anschluss an den ersten Tschetschenien-Krieg griff das russische Militär allein in den vergangenen zehn Jahren in vier Kriege ein oder löste sie aus: Der Kreml führte Russland in den zweiten Tschetschenien-Krieg (1999 bis 2009) und in den Georgien-Krieg (2008).“

Sachte, sachte, Herr Dobbert! Bitte nicht mit Nebelkerzen schmeißen! Zunächst einmal ist Eingreifen in einen Krieg und Auslösen eines Krieges nicht dasselbe – auch wenn Ihnen diese flotte Gleichschaltung gut in den Kram passt. Dasselbe gilt für die verschwommene Formulierung „Der Kreml führte Russland in den Krieg.“ Erspart Ihnen diese Vernebelungsstrategie doch genau die Differenzierungen, die hier nachgeholt werden müssen.

(1) Transnistrien: Jawohl, hier griff Russland im Sommer 1992 in der Tat in eine „bewaffnete Auseinandersetzung“, nämlich zwischen der nach Unabhängigkeit strebenden Region Transnistrien und der moldawischen Zentralmacht ein. General Lebed und seine – bereits in Transnistrien stationierte – 14. Armee beendeten hier weitgehend unblutig einen Bürgerkrieg, der bis dato, laut Gabriele Krone-Schmalz, über 1000 Menschen das Leben gekostet hatte. (Derselbe General Lebed übrigens, der später im August 1996 auch den ersten Tschetschenienkrieg beendete.)

(2) Zweiter Tschetschenienkrieg: Hier hat die russische Armee – zugegebenermaßen mit sehr harten Bandagen – die Installierung eines islamistischen Gottesstaates im Nordkaukasus verhindert. Der angesehene und grundsätzlich regierungskritische russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow kommentierte den Einsatz folgendermaßen: „Erstmals seit dem II. Weltkrieg hat die russische Armee eine echte Befreiungsaktion durchgeführt!“

Was schließlich (3) den Georgienkrieg 2008 betrifft, so habe ich Ihnen schon mal unter die Nase gerieben, dass er, wie der Bericht der „Unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien“3 der EU nachgewiesen hat, definitiv nicht von Russland begonnen wurde!

Das haben Sie auch gar nicht gesagt?

Oh, Herr Dobbert, Sie sind ja ein ganz Schlauer! Da bin ich tatsächlich auf Sie reingefallen. (Man merkt, dass Sie sich mal intensiver mit hybrider Kriegsführung beschäftigt haben.) Sorry, Sie haben natürlich nur gesagt, dass der Kreml Russland in den Georgien-Krieg geführt hat. Das ist selbstverständlich etwas völlig Anderes!

Doppelte Standards

Weiter gehts: „Bis zum heutigen Tag lässt Wladimir Putin auf den syrischen Schlachtfeldern Söldner kämpfen und Städte bombardieren (seit 2015). Auch in der Ukraine, wo Russland 2014 einen Krieg entfachte, der ebenfalls bis heute anhält, beschießen immer noch Woche für Woche russische Raketenwerfer ukrainische Dörfer und töten Menschen. Allein dieser Krieg mitten in Europa hat bisher mehr als 10.000 Bürgern das Leben genommen.“

Ja, angesichts des katastrophalen Scheiterns der westlichen Regime Change-Strategie in Afghanistan, Libyen und im Irak setzt Russland statt dessen auf Stabilisierung der staatlichen Zentralmacht und bekämpft, fraglos mit brutalen Mitteln, auf Seiten des Diktators Assad Islamisten, die bei uns beschönigend als ‚Rebellen‘ bezeichnet werden. Was auch immer man mit Recht gegen die Art der Kriegsführung einwenden mag: Im Gegensatz zur Intervention der USA ist der russische Einsatz in Syrien formal völkerrechtlich korrekt abgedeckt! Außerdem: Inwieweit unterschieden sich eigentlich die – in unseren Medien so gut wie immer unterschlagenen – westlichen Methoden der Befreiung Mossuls von der Aleppos? Die doppelten Standards lassen grüßen!

Schließlich, was die Ukraine, die Krim und den Donbass angeht: Die Krim wäre noch Teil der Ukraine, der Krieg im Donbass hätte nicht stattgefunden und die über 10.000 Menschen in der Ostukraine wären noch am Leben, hätte der Westen die am 22. Februar 2014 unter höchst fragwürdigen Bedingungen an die Macht gekommene Kiewer Umsturzregierung nicht postwendend anerkannt und statt dessen auf der Einhaltung des von ihm selbst noch einen Tag zuvor mit allen Konfliktparteien ausgehandelten Abkommens bestanden. Aber es ist ja einfacher – und es gibt einem das angenehme Gefühl moralischer Überlegenheit –, den westlichen Anteil an der Dynamik völlig auszublenden und die ganze Schuld Russland zuzuschieben!

Russlands, nicht Putins Spiele!

Und so geht es munter weiter, einen ganzen Zeitonline-Essay lang: „Sicher war es auch kein Zufall, dass der Georgien-Krieg im Sommer 2008 gleichzeitig mit den Olympischen Spielen in Peking eskalierte. Russlands Kriege laufen heutzutage verdeckt ab.“ Nein, ganz sicher kein Zufall! Aber da sollten Sie besser Herrn Saakaschwili fragen, statt Russland doch noch fälschlicherweise zu beschuldigen! – „Noch während die Athleten ihre Medaillen feierten, befahl Putin die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim.“ Mit anderen Worten: Kurz vor dem WM-Endspiel sollte man sich warm anziehen! Vielleicht ist diesmal der Donbass an der Reihe. – „Ich sah in Sotschi, wie systematisch gedopte russische Sportler ihre Siege feierten, während im Nachbarland das russische Militär ausrückte.“ Welch pathetische Engführung! Leider stimmt aber das Timing nicht: Die höflichen grünen Männchen waren erst ein paar Tage später an der Reihe.

Dass die Fußballweltmeisterschaft durchaus nicht Putins, sondern Russlands Spiele sind; dass jenseits aller Eskalation in der offiziellen Politik ein ganzes Volk sich darauf freut, die Welt als guter Gastgeber begrüßen zu können; dass die Spiele auch eine große Chance für die Menschen, Russen und Westler, sein könnten, sich mal auf eine andere, entspanntere Weise kennenzulernen; dass die Weltmeisterschaft so auch einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation in den Köpfen leisten könnte – all dies will Dobbert nicht in den gesinnungsethischen Sinn!

Lieber feiert er sich und seine private WM-Askese. Und freut sich dabei schon mal auf das baldige Ende des „Putinismus“. Schließlich geriet durch den westlichen Boykott ja auch „das Sowjetregime in eine Legitimationskrise. Olympia 1980 wurde zu einem Meilenstein des Kalten Krieges, der auch wegen des Boykotts einige Jahre danach beendet werden konnte.“

Dieser zwingenden Logik kann sich in der Tat niemand entziehen!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.