„Abseits – bei Putins WM“ – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (VII)

Veröffentlicht am: 26. Juni 2018

Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Was tun, wenn es beim besten, genauer: schlechtesten, Willen immer noch nichts an der Fußballweltmeisterschaft in Russland zu kritisieren gibt? Wenn in russischen Städten wider Erwarten gar ein Sommermärchen droht? Keine Panik – Spiegel Online ist auch in solch faden Schönwetterperioden nie um einen Rat verlegen! Das Rezept: Man kritisiere einfach irgend­etwas Anderes aus diesem Riesenland und veröffentliche dies unter der WM-Rubrik, die dort bereits vorsorglich den sinnigen Titel Abseits – bei Putins WM1 trägt mit dem ebenso hintergründigen Untertitel Was wird hier eigentlich gespielt?

Offenbar eine Menge. In Putins Russland findet sich schließlich Kritisierenswertes zuhauf!

Zum regelrechten Champion in dieser Disziplin scheint sich derzeit Maxim Kireev zu entwickeln. Punktgenau mit dem Start der Weltmeisterschaft lieferte Kireev sage und schreibe jeden Tag eine Kolumne mit wahrhaft ‚abseitigen‘ Themen. Angesichts einer solch rekordverdächtigen Produktivität kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der freischaffende Journalist wäre von der Spiegel Online-Redaktion genau für diesen Job angeheuert worden, zumal er in diesem Qualitätsmedium zuvor nie groß in Erscheinung getreten war und Kollegin Christina Hebel seit Beginn der WM mit den regelmäßigen Porträts Gesichter Russlands eher den Posten eines ‚Good Cop‘ übernommen zu haben scheint.

Kurzer WM-Bezug – und dann die Russlandkritik!

Ob das Thema aktuell ist oder recycelt, that doesn‘t matter. Hauptsache, es wird täglich ein Wermutstropfen ins WM-Besäufnis geträufelt! Das Strickmuster ist immer das Gleiche: Kurzen WM-Bezug herstellen. Wenn es kausal nicht geht, dann temporal. Dann das aktuell kritisierenswerte Thema aufs Tablett bringen und auswalzen. Zum Beispiel: Während Putin seine Spiele zelebriert – wahlweise: während Russland bzw. die Welt in Russland feiert –, passiert gerade das und das. Da trifft es sich gut, dass als Titelfoto für die gesamte Serie ein Fußballstadion mit zwei martialisch ausgerüsteten Polizeireihen im Vordergrund gewählt wurde.2 Dass das aktuelle Thema bisweilen sogar mal etwas Positives sein kann wie eine Amnestie für 100.000 Strafgefangene3, wirkt dann in diesem Kontext nur noch verdächtiger!

Aber der Reihe nach.

Es begann am 14. Juni zeitgleich zum Start der WM mit dem Beitrag – Sie erkennen das Muster – „Millionen feiern, einer hungert“.4 Prägnanter konnte man es nun wirklich nicht auf den Punkt bringen! Auch der Teaser war in diesem Sinne vorbildlich gewählt: „Mit großem Pomp beginnt die WM in Russland. Doch einer bejubelt das nicht: Der in Russland inhaftierte Regisseur Oleg Senzow befindet sich im Hungerstreik.“

Am zweiten Tage wurde das Muster subtil variiert. Titel: „Boß keine WM-Kinder“.5 Teaser: „Spätestens seit dem 5:0 über Saudi-Arabien sind die Russen in WM-Stimmung. Eine Duma-Abgeordnete warnt die Frauen jedoch vor zu engem Kontakt mit den ausländischen Fans.“

Die dritte Folge mit dem Titel „WM-Maskottchen als Polizeifalle“6 und dem Teaser Als Kunden getarnte Polizisten bestellten bei einer Näherin Kostüme vom russischen WM-Maskottchen Zabivaka. Der Frau drohen nun bis zu zwei Jahre Gefängnis“ folgte dem klassischen Prinzip erst im Text so richtig: Bei der Eröffnungsfeier der WM sprach der Staatschef vom ‚humanistischen Potenzial‘ des Fußballs. Doch während Wladimir Putin die Weltmeisterschaft als Chance begreift, das Image seines Landes zu verbessern, backen die Polizisten in der Millionenstadt Kasan kleinere Brötchen. Sie wollten offenbar ihre Statistik mit einem weiteren schnell gelösten Fall aufpolieren.“

Dafür stimmte einen Tag später im Beitrag „Ohne Smog gibts kein Gehalt“ der Teaser wieder auf Anhieb: „Russland soll sich während der WM von seiner schönsten Seite zeigen, so will es Wladimir Putin. Smog passt da gar nicht ins Bild.“7 Und am 18. Juni war alles perfekt! Überprüfen Sie selbst: „Zum Anpfiff eine Rentenreform – Was für ein Zufall: Am Tag der weltweit übertragenen WM-Eröffnung ging es in Russlands Parlament unerwartet um eine Erhöhung des Rentenalters.“8 Es folgten die an dieser Stelle bereits ausführlicher besprochenen Klassiker „WM brummt, Donbass brennt“9 und „Zwei Siege, drei Pleiten“.10 Letzterer Beitrag wieder mit einem bilderbuchmäßigen Teaser: „Russland ist im WM-Fieber, nachdem die Nationalmannschaft auch ihr zweites Vorrundenspiel gewonnen hat. Der Ligabetrieb hingegen darbt – bereits dem dritten Profiklub wurde die Lizenz entzogen.“

Und so weiter und so fort. Ich will Sie nicht zu sehr quälen. Sie kennen nun das Muster. Sie wissen, was Sie erwartet.

Eine Perle möchte ich Ihnen aber doch nicht vorenthalten. Es geht um die Amnestie – Sie erinnern sich – der 100.000 Gefängnisinsassen. (By the way: Raffinierter Trick von Putin. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi ließ er nämlich Pussy Riot und Chodorkowski begnadigen – um kurz darauf die Krim zu annektieren. Grund genug, sich schon mal warm anzuziehen!)

Und welche regelkonforme Überschrift hat sich Kireev hierfür einfallen lassen? „Sommermärchen im Straflager“!11 Damit hat er es geschafft, selbst den höchstprägnanten Titel seines Eröffnungsbeitrags an Kürze nochmals zu übertreffen.

Weltmeister!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.