Mut zur Unmündigkeit! – oder: Habe den Mut, dich deines Verstandes NICHT zu bedienen

Veröffentlicht am: 21. Mai 2020

Donald Trump nimmt ein Malaria-Medikament vorbeugend gegen Covid-19 ein, weil er „viele gute Geschichten darüber gehört“ hat. Wissenschaft und scharfsinniges Denken verlieren weltweit an Ansehen. Statt dessen ist eine ‚Logik à la Pippi Langstrumpf‘ auf dem Vormarsch!

von Leo Ensel

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft Lass nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken So hab ich dich schon unbedingt! (Goethe: Faust I)

Am 19. Mai stand den entgeisterten Zuhörerinnen und Zuhörern des Deutschlandfunks für eine Weile der Mund offen, als ihnen aus den „Informationen am Morgen“ folgende Meldung entgegenquoll:

US-Präsident Trump nimmt nach eigener Aussage zur Vorbeugung gegen eine mögliche Corona-Infektion ein Malaria-Medikament ein. Er ignoriert damit die Einschätzung von Experten, laut denen es lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen verursachen kann. Die vorliegenden Studien zu Hydroxychloroquin konnten zudem nicht beweisen, dass es gegen Covid-19 wirkt. Trump sagte, zwar habe sein Arzt ihm das Mittel nicht empfohlen. Er habe aber viele gute Geschichten darüber gehört.“

Und in Telepolis1 waren noch die ergänzenden Sätze des Präsidenten zu lesen: „Es scheint eine Wirkung zu haben. Vielleicht ist das so, vielleicht nicht …“

Amerikanisches Roulette

Nehmen wir mal an – aber man weiß ja heute nie! –, es habe sich hier tatsächlich um keine Fake News, sondern um die schlichte altmodische Wahrheit, definiert als „Übereinstimmung von Aussage und Factum“, gehandelt: Dann missachtet der mächtigste Mann der Welt also die Expertenwarnung vor lebensgefährlichen Nebenwirkungen eines Medikaments, er ignoriert empirische Studien, die dessen Wirksamkeit bislang nicht nachweisen konnten, sondern medikamentiert statt dessen als mündiger erster Bürger seines Staates sich selbst auf eigene Faust, weil er „viele gute Geschichten darüber gehört“ hat und weil es vielleicht eine Wirkung hat. Oder auch nicht! Jeder Mensch ist offenbar nicht nur – die Frohe Botschaft eines Joseph Beuys vor einigen Jahrzehnten – ein Künstler; jeder Mensch ist zudem, man höre und staune: ein Arzt! Und zwar ohne langjährige universitäre und klinische Ausbildung. Noch vor wenigen Jahren wäre so etwas noch nicht mal als schlechter Witz durchgegangen!

Unwillkürlich fragt man sich, welche Entscheidungen dieser Präsident noch alle treffen wird, nur weil er über das Ein oder Andere „viel Gutes gehört“ hat … Vielleicht hat ja auch eine Atombombenzündung eine Wirkung – vielleicht aber auch nicht! Mit anderen Worten: Der – im ominösen Ernstfalle – Herr über Sein oder Nichtsein des gesamten Planeten plädiert in lebensentscheidenden Fragen für ein ‚entschiedenes Vielleicht‘!

Aber könnte man mit extrem viel gutem Willen und ein klein wenig philosophischer Vorbildung Trumps originelle Selbstmedikation nicht als aufgeklärtes Handeln, als Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, als Befreiungsakt aus einer unerträglich gewordenen Expertokratie ansehen? – Nein, kann man nicht! Hören wir uns nochmal die klassische Formel2 an, mit welcher der Philosoph aus Königsberg das Wort „Aufklärung“ ein für allemal auf den Begriff gebracht hat:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Der US-Präsident hat sich nicht etwa seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen bedient, sondern schlicht unreflektiert in die Tat umgesetzt, worüber er schon „viele gute Geschichten gehört“ hatte. Von wem die Geschichten stammten und ob sie stimmten? – So what!! Trump hat den Mut aufgebracht, sich seines Verstandes NICHT zu bedienen, womit er bezogen auf seine Gesundheit zwar kein russisches, wohl aber amerikanisches Roulette praktiziert hat. „Non sapere aude!“, lautet sein antiaufklärerischer Wahlspruch.

Ganz im Sinne Mephistos verachtet dieser Mann Vernunft und Wissenschaft und lässt sich „in Blend- und Zauberwerken von dem Lügengeist bestärken“. Wobei er sich auch noch „great“ vorkommt. Das daraus zwingend folgende Resultat hat der Verführer Fausts bereits unmissverständlich benannt!

Doch Trump steht nicht alleine.

Pippi statt Logik! – Die Lust an der Irrationalität

„Gegen die Dummheit kämpfen selbst Götter vergebens!“ Dieser Seufzer hallt durch die Jahrtausende der Weltgeschichte. Aber warum verharren Trump und Andere so gerne in ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit? Die Antwort Immanuel Kants ist heute so aktuell wie vor fast 240 Jahren:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

So ist es!

Statt Wissenschaft zu betreiben, statt das Denkvermögen zu schärfen, sich gar der berühmten ‚Anstrengung des Begriffes‘ zu unterziehen, ist es natürlich bequemer, sich wie der US-Präsident eine Privatlogik zurechtzubasteln und zusammen mit den Gesinnungsfreunden der jeweiligen Filterblase wie Pippi Langstrumpf3 die Welt so zurechtzubiegen, widdi-widdi-wie sie einem gefällt! Aber die Zumutungen der Rationalität sind nichts Anderes als die Zumutungen der Realität selbst, die sich – störrisch, wie sie nun mal ist – der Pippi-Logik einfach nicht fügen will.

Das bekamen bereits in der Antike Despoten wie der persische Großkönig Xerxes zu spüren, als sich das Meer erfrechte, eine gerade frisch erbaute Brücke über den Hellespont (die Meeresenge am Eingang der Dardanellen) prompt wieder zu zerstören. Worauf der wutschäumende Xerxes – laut Herodot4 –, sich wie eine wildgewordene Pippi Langstrumpf aufführend, die unbotmäßigen Wellen prompt mit 300 Peitschenhieben bestrafen ließ. (Und, um der stürmischen See Fesseln anzulegen, noch zusätzlich ein paar Fußschellen ins offene Meer versenkte.)

Die Parallele zur Reaktion einiger Zeitgenossen, die bei der gegenwärtigen Corona-Pandemie nicht die Verhältnismäßigkeit einiger Einzelmaßnahmen kritisieren, sondern die Gefährlichkeit des Virus oder – wie unlängst der Präsident von Belarus5 – gar dessen Existenz selbst leugnen, ist unübersehbar. Dazu der Physiker und Jurist Andreas Unzicker6: „Mir drängt sich hier die Assoziation zu einem Dreijährigen auf, der sich trotzig auf den Boden wirft und seine Eltern beschimpft, weil es am Geburtstag regnet. Die reale Welt besteht aber nicht nur aus Sonnenschein, erst recht nicht im 21. Jahrhundert.“

Aber auch diese Attitüde, Denkfaulheit und Filterblasenhörigkeit als Akt bockiger Entschlossenheit, als „Mut zur Unmündigkeit“ zu inszenieren, ist keineswegs neu. Denselben Habitus bedienten bereits die Nazis, als sie mit der unausgesprochenen kühnen Maxime „Sei Manns genug, keine Persönlichkeit sein zu wollen!“ ihren „Volksgenossen“ die freiwillige Selbstgleichschaltung schmackhaft machten.

Postfaktisch“

Am 22. April 2017 fand in mehr als 600 Städten erstmals der internationale „March for Science“ statt, eine Großdemonstration für den Wert von Forschung und Wissenschaft und gegen „alternative Fakten“ bzw. eine „postfaktische Ära“. Dass so ein Marsch – und auch noch weltweit! – überhaupt organisiert werden musste, sagt erschreckend viel über die sogenannte „Geistige Situation der Zeit“ aus.

Die Strategie der Antiaufklärer beginnt immer damit, Fakten und Wahrheiten zu Meinungen zu degradieren. Eine Falschaussage, vulgo: Lüge, hätte demnach dasselbe Recht auf Anerkennung wie die Wahrheit selbst – eine atemberaubende Unterstellung, die unter anderem die gesamte Justiz auf diesem Planeten obsolet machen würde!

Was bei konsequenter Anwendung dieses Prinzips herauskommt, liegt auf der Hand:

Der Holocaust – wir sind ja tolerant, leben in einer pluralistischen Gesellschaft und achten das Recht auf Meinungsfreiheit! – hat demnach entweder stattgefunden oder auch nicht; zwei mal drei macht vier (Pippi) oder auch sechs (der Mathematiklehrer in der Zweiten Klasse); und ein Malaria-Medikament hilft gegen Covid-19 – oder auch nicht!

Richtig oder falsch, wahr und unwahr gibt es nicht mehr – gepriesen seien dagegen Pluralismus und Toleranz!

Der „postfaktische“ Habitus geht noch einen Schritt weiter. Er bedeutet nicht einfach nur Lüge – die wäre als „wissentliche Unwahrheit“ immerhin noch eine indirekte Verbeugung vor der Wahrheit –, sondern die schlichte Attitüde, „that facts don‘t matter!“. Fakten werden nicht mehr geleugnet, auch nicht mehr wenigstens, als Meinungen disqualifiziert, in einem Pseudodiskurs attackiert – sie werden schlicht ignoriert! Frei nach dem Motto: Ich interessiere mich nicht für den Klimawandel, kann daher fairerweise von diesem erwarten, dass er sich auch nicht für mich interessiert.

Und auch hier gibt es akademische wie politische Vorläufer. Der Idee, über Fakten – sozusagen „par ordre du mufti“ – beliebig verfügen zu können, entsprach beispielsweise die Logik stalinistischer Politbüros, nach der nicht etwa befohlen wurde, dass ab sofort zwei und zwei sieben sein sollten – sondern, dass zwei und zwei schon immer sieben waren!! Weshalb diese Staaten konsequenterweise immer mehr zu „Ländern mit unvorhersagbarer Vergangenheit“ mutierten.

Die vornehmere akademische Variante bildeten Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts wissenschaftstheoretische Moden wie ein radikaler Konstruktivismus, der sich im Extremfall zum Solipsismus (der Vorstellung, dass die Welt ausschließlich im eigenen Bewusstsein existiert) auswuchs, sowie diverse postmoderne Paradigmata, die den Wahrheitsbegriff so massiv attackierten, dass zum Schluss so gut wie nichts mehr von ihm übrig blieb. Den Vogel schossen dabei mal wieder besonders eloquente französische Meisterdenker ab, bei denen, wie der Physiker Alan Sokal7 nachwies, am Ende keiner mehr wusste, ob sie Genialitäten oder schlicht Schwachsinn produziert hatten. Kein Wunder, dass bei soviel „Elegantem Unsinn“8 der wissenschaftlichen Scharlatanerie und politischen Rattenfängern jeglicher Couleur Tür und Tor geöffnet wurde! (Leider tauchte das berühmte Kind, das dem Kaiser seine Nacktheit attestiert, in der Öffentlichkeit nie auf!)

Kurz: Von der postmodernen Zertrümmerung des Wahrheitsbegriffes profitieren heute Trump, Reichsbürger, Wunderheiler, Esotheriker, Impfgegner, Ufologen und Anthroposophen gleichermaßen.

Geist ist geil!

Aber vielleicht ist unsere Welt ja doch nicht ganz so undurchsichtig, wie es uns als Wissenschaftler getarnte Kurpfuscher mit ihren waghalsigen intellektuellen Salti mortali weismachen wollen. Nicht zuletzt die Naturwissenschaften sprechen – bei allen Risiken und Nebenwirkungen ihrer Anwendung – eine andere Sprache!

Faustregel: Überall wo scharfsinniges Denken, wo Bildung und Logik, wo „Vernunft und Wissenschaft“ mit welchen Argumenten auch immer verächtlich gemacht oder gar für obsolet erklärt werden, ist etwas faul! Wer uns schlau verdummen will, will uns beherrschen. Wer uns das Selber-Denken und den Mund verbieten will, beabsichtigt, sich „zu unserem Vormund aufzuwerfen“.

Denn zwei mal drei macht eben nicht vier, und zwei macht auch nicht Neune – sondern immer noch acht! Und die Erde ist eine Kugel. Und der Regen fällt von oben nach unten! Allen postmodernen Pirouetten zum Trotz. Es wird Zeit, dies nicht nur einer dekadenten akademisch-verdrehten Intellektuellen-Schickeria wieder zu verklaren!

Als salopp-offensiven Wahlspruch dieser immer notwendiger werdenden ‚Aufklärung 2.0‘ – als das „Sapere aude!“ des 21. Jahrhunderts – schlage ich vor:

Geist ist geil!“

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.