Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurde im März verhaftet, was zu großen Protesten führte. (Foto: Hilmi Hacaloğlu, Voice of America, Public Domain)
Was ist los in der Türkei?
Die Rentiers-Opposition und der Widerstand
Am 18.März entzog man Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), das Universitätsdiplom. Die Entscheidung wurde als Mehrheitsbeschluss von einem Ausschuss der Universität Istanbul gefällt, an der İmamoğlu seinen Abschluss gemacht hat. Nach türkischem Recht ist ein Universitätsabschluss für eine Kandidatur zur Präsidentschaft unabdingbar, sodass diese Entscheidung İmamoğlus Kandidatur faktisch verunmöglicht.
Für viele war İmamoğlu der einzige Politiker, der in der Lage gewesen ist, den seit 23 Jahren regierenden Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu besiegen. Der Ausschluss İmamoğlus durch ein solch primitives Manöver führte unter den Anhängern der Opposition zu großer Entrüstung. Einer langjährigen Tradition innerhalb der türkischen Opposition entsprechend entschied sich İmamoğlu selbst jedoch dafür, diese Wut zu schlucken, anstatt sie zu nutzen. Auf die Annullierung seines Diploms reagierte er mit einer zurückhaltenden Videoerklärung, die bei einem Ramadan-Essen aufgenommen wurde.
In dem Video betont er das islamische Konzept des „kul kakki“ (Recht des Gläubigen) und legte dar, dass die Aberkennung des Diploms, das er 33 Jahre zuvor erworben hatte, Anzeichen einer umfassenderen Bedrohung des Privateigentums und der Bürgerrechte in der Türkei sei. İmamoğlus Erklärung enthielt weder einen Aufruf zum Protest gegen die Entscheidung noch einen klaren Fahrplan dafür, wie er diese anzufechten gedenkt.
Der Preis für diese Zurückhaltung sollte sich als sehr teuer erweisen. Am Morgen nach der Entscheidung der Universität wurden Dutzende von Polizeifahrzeugen vor İmamoğlus Haus postiert. Der Bürgermeister der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei wurde in Polizeigewahrsam genommen. Etwa zur selben Zeit wurden fast einhundert Personen, darunter Journalisten, Politiker der Opposition und Mitarbeiter der Stadtverwaltung, festgenommen und İmamoğlus Bauunternehmen von der Regierung beschlagnahmt. Die Anklage gegen ihn lautete unter anderem auf Leitung einer kriminellen Vereinigung, Korruption, Bestechung und Geldwäsche. Ein paar Tage später, am 23. März, wurde İmamoğlu offiziell verhaftet.
İmamoğlus Festnahme löste umfangreiche Proteste, vor allem in den Universitäten, aus. Die Regierung reagierte hierauf mit Urlaubsstreichungen für die Polizei, Einstellung des öffentlichen Verkehrs in Großstädten und einer strengen Polizeikontrolle auf öffentlichen Plätzen. Zwölf Jahre nach den landesweiten Gezi-Protesten standen sich Erdoğans Regierung und oppositionelle Gruppen erneut auf den Straßen gegenüber.
Der richtige Zeitpunkt
In politischen Prozessen greifen Wirklichkeit und Fiktion ineinander; zudem sind geheime Zeugenaussagen und fragwürdige verfahrensrechtliche Praktiken gang und gäbe. Seit den Anfangsjahren hat Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) in der Regierung solche Prozesse als wichtigstes Instrument für politische Vergeltungsmaßnahmen eingesetzt. Auch wenn also die plötzliche Brandmarkung des Bürgermeisters der größten Stadt des Landes als Anführer einer kriminellen Organisation schockierend war, kam sie nicht unerwartet. Die entscheidende Frage ist hier, warum die AKP-Regierung sich genötigt sah, dieses Instrument genau zu diesem Zeitpunkt einzusetzen.
Für die Regierung war der Hauptbeweggrund für eine Operation gegen İmamoğlu zweifellos dessen politischer Aufstieg.
Bei den Kommunalwahlen im März 2019 besiegte İmamoğlu den ehemaligen Premierminister der AKP, Binali Yıldırım. Die Wahl wurde jedoch wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten für ungültig erklärt. Bei einer erneuten Wahl konnte sich İmamoğlu noch stärker durchsetzen und sicherte sich damit das Bürgermeisteramt von Istanbul. In den Wahlen 2024 gelang es ihm, seine Position durch die Steigerung des Stimmenanteils zu halten.
Erdoğan, einst selbst Istanbuls Bürgermeister, hatte bekanntlich geäußert: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ Nachdem İmamoğlu dreimal in Istanbul als Sieger hervorgegangen war und die CHP aus den Kommunalwahlen 2024 als führende Partei hervorging, wurde immer deutlicher, dass sein nächstes Ziel die Präsidentschaft sein würde.
Am 23. März beschloss die CHP-Führung, eine symbolische Vorwahl abzuhalten, die İmamoğlu als einzigen Kandidaten der Partei bestätigte. Diese Entscheidung ermöglichte es İmamoğlu, mit der politischen Legitimität ins Rennen zu gehen, die sich aus der millionenfachen Unterstützung durch Mitglieder der zweitgrößten Partei ergibt. Sie sorgte auch dafür, dass die CHP die Fehler der Präsidentschaftswahlen von 2023 nicht wiederholen würde, als sie nämlich die Bekanntgabe ihres Kandidaten hinauszögerte. Da der AKP-Regierung bewusst war, dass es weitaus schwieriger sein würde, einen erfolgreichen und von Millionen gewählten Präsidentschaftskandidaten seines Amtes zu entheben als den Bürgermeister von Istanbul zu verhaften, trieb die Entscheidung der CHP die Regierung an, schnell zu handeln und İmamoğlu auszuschalten.
Für eine solche Operation war dieser Beweggrund jedoch nicht ausreichend — wesentlich waren günstige außen- und innenpolitische Bedingungen. Die Biden-Regierung, die immer Abstand zu Erdoğan gehalten und beträchtliche finanzielle Unterstützung von der Fethullah Gülen Sekte erhalten hatte, die 2016 versuchte, Erdoğan zu stürzen, war aus dem Amt ausgeschieden. An seine Stelle trat Donald Trump, der Erdoğan als „meinen Freund“ bezeichnete. Es war fast sicher davon auszugehen, dass sich die geopolitisch orientierte Trump-Regierung nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen würde. Zudem erhöhte Trumps Zögern, den Ukraine-Konflikt aufrechtzuerhalten, die strategische Bedeutung der Türkei in den Augen seiner europäischen Alliierten maßgeblich. Die Regierung verstand, dass es sich weder die Vereinigten Staaten noch Europa leisten konnten, ihre Beziehungen zur Türkei wegen Zweifeln an der türkischen Demokratie zu gefährden. Diese Auffassung wurde durch offizielle Erklärungen, die seit İmamoğlus Verhaftung abgegeben wurden, nur bestätigt.
Innenpolitisch führte die Regierung gerade eine Reihe von Verhandlungen mit der separatistischen kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Wenige Wochen vor İmamoğlus Verhaftung hatte der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan eine kurze, jedoch verblüffende Erklärung abgegeben, in der er die Organisation aufforderte, sich aufzulösen. Daraufhin erfolgte in Damaskus eine Vereinbarung zwischen den Syrischen Demokratischen Kräften, einer von den Vereinigten Staaten unterstützten, mehrheitlich kurdischen Gruppe, und der von der Türkei gestützten Hay´at Tahrir al-Sham-Regierung.
Die Kurden, in den letzten Jahren eine bedeutende Oppositionskraft und Unterstützer des CHP-Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 2023, wurden durch den von ihren Anführern geleiteten Verhandlungsprozess kaltgestellt.
Die Tragödie der Rentiers-Opposition
Aber auch diese Faktoren erklären nicht in Gänze, wie eine solche Operation gegen die CHP durchgeführt werden konnte, die nicht nur die politische Gründungskraft der Türkei darstellt, sondern auch die führende Partei bei den letzten Wahlen war und die staatliche Autorität in allen größeren Städten des Landes stellt. Für ein vollständigeres Bild muss man das Wesen der CHP an sich verstehen.
Marx definiert „Rente“ als einen Wert, der sich aus der Monopolisierung eines bestimmten Rohstoffs — häufig Land — ergibt; ein Rentier ist jemand, der, ohne zur Produktion eines Produktes beizutragen, durch Anteile an diesem Produkt eine „Rente“ verdient. Wendet man dieses Konzept auf die Politik an, so scheint die CHP einen Rentier-Charakter zu haben, der die Partei daran hindert, ihre Wahlsiege und öffentliche Unterstützung in echte politische Macht zu verwandeln, womit sie den Manövern der AKP ausgeliefert ist. Die Wählerschaft der CHP unterstützt die Partei größtenteils nicht aufgrund ihrer Politik, sondern weil sie als stärkste Alternative zu Erdoğans AKP wahrgenommen wird. Ironischerweise festigt eben diese Wahrnehmung die Position der CHP als wichtigste Oppositionspartei. In diesem Sinne wirkt die CHP wie eine Rentierspartei, die sich eher auf ihren Status als Hauptopposition stützt als auf überzeugende politische Vorschläge. Und tatsächlich zeigen sich bei genauerer Betrachtung der CHP-Politik verblüffende Übereinstimmungen mit der der AKP.
Auf dem Papier ist die CHP eine sozialdemokratische Partei, dargelegt in ihrem Programm und ihrer Charta. Dennoch offenbaren die Rhetorik ihrer Anführer und ihre Wahlversprechen ein starkes Festhalten an neoliberalen Prinzipien — mindestens so stark, wenn nicht gar
stärker als die AKP.
Während der Präsidentschaftswahlen von 2023 schlug die von der CHP geführte Nationale Allianz ein Wirtschaftsprogramm vor, das unter anderem die Privatisierung der Eisenbahn — ein Schritt, den nicht einmal die AKP vollständig gegangen war — und die Einführung von Sparmaßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise vorsah. Zudem ernannte die CHP Ali Babacan, einen ehemaligen Wirtschaftsminister unter Erdoğan und entschiedenen Verfechter neoliberaler Politik, zum Vizepräsidenten für Wirtschaftsfragen. Ironischerweise fiel die AKP-Regierung nach den Wahlen wieder in ihre traditionelle neoliberale Haltung zurück, obwohl sich die Öffentlichkeit letztendlich für Erdoğans Wirtschaftsansatz entschied, der sich durch niedrige Zinssätze, hohe Wechselkurse und eine geringe Arbeitslosigkeit auszeichnete. Mehmet Şimşek, ehemaliger Finanzminister mit engen Verbindungen zu Londons Finanzzirkeln, wurde wieder eingesetzt und führte strikte Sparmaßnahmen in Abstimmung mit den Leitlinien des IWF ein. İmamoğlu brachte sogar seine Unterstützung für Şimşeks Politik zum Ausdruck: „Wir sehen die Bemühungen des Herrn Şimşek, die richtigen Schritte, gute Maßnahmen und einen respektablen Weg einzuschlagen.“ Letzten Endes sind die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen der CHP und der AKP oberflächlich.
Ebenso bedarf die Beziehung zwischen der „sozialdemokratischen“ CHP und der Arbeiterklasse einer genaueren Analyse. AKP-Funktionäre kriminalisieren Streiks häufig unter dem Vorwand von Sicherheitsbedenken und beschuldigen streikende Arbeiter sogar, ausländischen Mächten zu dienen. Die CHP zeigt jedoch ähnliche Tendenzen: In CHP-regierten Gemeinden werden streikende Arbeiter von parteinahen Medien und Politikern oft als Agenten der AKP dargestellt. Zudem sind CHP-Gemeinden dafür bekannt, dass sie organisiertes Streikbrechen betreiben. In einem Stadtteil Istanbuls schickte İmamoğlu Reinigungskräfte los, um den von streikenden Müllarbeitern nicht abgeholten Müll zu beseitigen.
Im Spagat zwischen Säkularismus und Islamismus — einem bestimmenden Thema in der türkischen Politik — wird die CHP vorrangig von der säkularen städtischen Bevölkerung unterstützt. Dennoch bemühte sich die Partei lange darum, die islamistische Rhetorik und politischen Strategien der AKP zu imitieren.
Obwohl die CHP während Kemal Atatürks Präsidentschaft religiöse Orden verbot, scheint sie die politischen und organisatorischen Vorteile erkannt zu haben, die diese Gruppen der AKP verschafft haben.
Folglich hat sich die CHP aktiv um Beziehungen mit verschiedenen religiösen Orden bemüht, um sich deren Unterstützung zu sichern. Trotz dieser Bemühungen ist eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, darunter beinahe alle CHP-Wähler, nach wie vor beunruhigt über den Einfluss religiöser Gruppen in der türkischen Gesellschaft. Diese Organisationen, die über bedeutende wirtschaftliche und politische Macht verfügen, machen häufig Schlagzeilen — durch Skandale im Zusammenhang mit Korruption, sexueller Belästigung und Gewalt gegen Kinder in unlizenzierten Bildungseinrichtungen.
İmamoğlu, der seine politische Karriere in Turgut Özals neo-osmanischer Mutterlandspartei begann, verkörpert einen gemäßigten islamistisch-politischen Ansatz. Seine Amtszeit als Bürgermeister begann mit einem von einem Imam in seinem Büro geleiteten Gebet. Wie Erdoğan nutzte İmamoğlu die Freitagsgebete beständig als Plattform für politische Botschaften. Er brachte auch seine Bewunderung für Istanbuls islamisch-religiöse Orden zum Ausdruck und pflegte Beziehungen zu pan-islamistischen Organisationen wie der Stiftung für humanitäre Hilfe, einem wesentlichen Instrument in der außenpolitischen Agenda der AKP.
Einer der Hauptkritikpunkte der CHP an der AKP betrifft das Konzept der „Meritokratie“. Während die Wirtschaftspolitik der CHP selbst kaum von der der AKP abweicht, macht sie die Praxis der AKP, wichtige Entscheidungspositionen an loyale, aber unqualifizierte Personen zu vergeben, für die wirtschaftliche Krise des Landes verantwortlich. Dennoch scheint die CHP sich nur oberflächlich zur Meritokratie zu bekennen. Die Erfahrung der Stadt Hatay, die vom Erdbeben im Februar 2023 am stärksten betroffen war, verdeutlicht dies auf eindrucksvolle Weise. In den Jahren zuvor wurden unter der Führung des CHP-Bürgermeister Lütfü Savaş in Hatay illegale Baugenehmigungen erteilt, die maßgeblich zum Verlust tausender Menschenleben beitrugen. Obwohl Savaş’ Verantwortung für diese verheerende Tragödie weithin anerkannt wurde, beschloss die CHP-Führung, ihn erneut für die Kommunalwahlen 2024 zu nominieren, was große Empörung in der Öffentlichkeit auslöste. Bei einer Gedenkveranstaltung zum einjährigen Jahrestag des Erdbebens kam es zu Protesten gegen die Führer der CHP. Als eine Frau flehte: „Bitte nominieren Sie Lütfü Savaş nicht“, antwortete İmamoğlu ganz im Sinne seiner islamistischen Tendenzen: „Bitte, Schwester. Der Koran wird gerade rezitiert; lassen Sie uns gemeinsam zuhören.“
Die CHP kritisiert die AKP oft als ein von einer Einzelperson dominiertes System, indem Entscheidungen ohne Kontrolle und Ausgleich („checks and balances“) gefällt werden. Während Erdoğans weitreichende Kontrolle über seine Partei und den Staatsapparat unstrittig ist, geht die CHP in einer bemerkenswert ähnlichen Weise vor. Der Parteivorsitzende verfügt über die ausschließliche Befugnis bei der Auswahl parlamentarischer Kandidaten und Bürgermeister, was eine Konsolidierung der Entscheidungsmacht innerhalb der Führung bewirkt.
In manchen Fällen einseitigen Handelns ist die CHP-Führung sogar noch weiter gegangen als Erdoğan.
Nachdem er die erste Runde der Wahlen im Mai 2023 verloren hatte, unterzeichnete der damalige CHP-Führer und Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, heimlich einen Vertrag mit Ümit Özdağ, dem Oberhaupt der rechtsextremen, einwanderungsfeindlichen „Partei des Sieges“ (Zafer Partisi). In der später von Özdağ offengelegten Vereinbarung sicherte die Partei des Sieges die Unterstützung für Kılıçdaroğlu zu — im Austausch für Schlüsselpositionen, darunter das Innenministerium und die Leitung der Nachrichtendienste.
Durch dieses Übereinkommen wurden Millionen kurdischer und linker Wähler manipuliert, da sie dazu gedrängt wurden, für einen Kandidaten zu stimmen, der sich bereit erklärt hatte, eine rechtsextreme Partei zu stärken. Trotz dieses politischen Manövers verlor Kılıçdaroğlu schließlich die Wahl.
Insgesamt besteht zwischen der CHP und der AKP weder in der Wirtschafts- und Sozialpolitik noch in den politischen Gepflogenheiten ein bedeutender Unterschied. Beiden Parteien ist eine Vision für ein Wirtschaftssystem gemein, das sich durch unkontrollierte Korruption, sinkende Reallöhne, zunehmende soziale Ungleichheiten und Arbeitsunfälle auszeichnet, denen eher durch Entschädigungen als durch Verordnungen begegnet wird. Diese Ausrichtung spiegelt die Präferenzen der kapitalistischen Klasse der Türkei wieder, die beide Parteien unterstützt. Die CHP mag zwar anstreben, das Ruder des Schiffes zu übernehmen, zeigt aber keinerlei Absicht, es in eine andere Richtung zu steuern.
Die CHP hat ebenso fleißig wie die AKP daran gearbeitet, ein politisches System zu etablieren, in dem die Öffentlichkeit ein passiver Zuschauer statt eines aktiven Teilnehmers bleibt. Die CHP-Führung und die mit ihnen verbundenen Medien haben sich darauf konzentriert, das politische Engagement oppositioneller Gruppen auf bloße Wahlbeteiligung zu reduzieren. Sie haben die Vorstellung verbreitet, dass politische Verpflichtungen und Forderungen Hemmnisse für einen Sieg über die AKP sind und damit Oppositionsgruppen dazu gedrängt, einen Wahlsieg zu priorisieren — selbst um den Preis, ihre Prinzipien und Identitäten aufzugeben. Diese Strategie gipfelte in den Parlamentswahlen 2023, in denen Millionen von CHP-Wählern, die die AKP zutiefst ablehnten und für die Schwierigkeiten in ihrem Leben verantwortlich machten, schließlich doch den früheren AKP-Premierminister Ahmet Davutoğlu sowie weitere AKP-Minister und -Abgeordnete unter dem Banner der CHP ins Parlament wählten. Ironischerweise kehrten manche dieser Abgeordneten später zu ihrer ursprünglichen politischen Heimat, der AKP, zurück.
Die Besessenheit der CHP von der Wahlpolitik hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Protestkultur in der Türkei nahezu ausgemerzt wurde. Trotz einer anhaltenden Wirtschaftskrise und gesellschaftlicher Traumata wie dem Erdbeben von 2023 finden Proteste unregelmäßig und mit geringer Beteiligung statt. Während die AKP-Regierung, die das Recht auf Protest kriminalisiert hat, dafür die Hauptverantwortung trägt, sind die CHP-Führung und die ihr angeschlossenen Medien nicht weniger schuld. Die Partei hat Proteste gegen die Regierung durchgehend als Aktionen hingestellt, die die AKP als Opfer darstellen und damit potenziell die Position der AKP bei Wahlen stärkt. Die CHP tut jede Form politischen Ausdrucks außerhalb der Wahlen als undemokratisch ab und ist damit der AKP sehr ähnlich. Dies führte zu der paradoxen Situation, in der fast jeder, Tag für Tag die Politik verfolgt und die Wahlbeteiligung stets über 90 Prozent beträgt, aber politische Forderungen im Alltagsleben fast unsichtbar sind. Aus demselben Grund rief auch İmamoğlu nach seinem Ausschluss von der Wahl nicht zu Protesten auf: Das Konzept des Protests existiert im politischen Drehbuch der CHP nicht.
Die Strategie der CHP — echte Forderungen der Öffentlichkeit zu unterdrücken, einer Politik der Massen entgegenzuwirken und darauf zu vertrauen, dass sie aus dem einzigen Grund, nicht die AKP zu sein, von den Wählern unterstützt wird — hat die Menschen dazu gebracht, ihre ständigen Schwierigkeiten und ihre Verarmung zu ignorieren und sich stattdessen an die Hoffnung auf bessere Zeiten unter der CHP-Regierung zu klammern.
Aber auch diese Strategie brach zusammen, als die AKP-Regierung die Gelegenheit ergriff, weitreichende gerichtliche Ermittlungen gegen die CHP einzuleiten. Auf günstige nationale und internationale Bedingungen aufbauend veränderte die AKP die politische Landschaft, indem sie den berühmtesten Politiker der CHP verhaftete und Korruptionsvorwürfe gegen die Partei erhob.
Die Tragödie der türkischen Rentiers-Opposition liegt in diesem Paradoxon: Die Wahlurne, die die CHP als perfekte Lösung verfochten hat, wurde ihrer Effektivität beraubt und der einzige noch gangbare Weg für die CHP ist der Massenprotest — den die CHP über ein Jahrzehnt lang untergraben hat. Das Ausmaß, in dem die AKP ihre Aktion gegen die CHP vorantreiben kann, wird letztendlich von dem Widerstand auf der Straße abhängen.
Widerstand auf der Straße
İmamoğlus Verhaftung entfachte in der ganzen Türkei Proteste, die die politische Landschaft umgestalten. Zunächst versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Gebäude der Stadtverwaltung Istanbuls und schien eher eine CHP-Kundgebung als ein Protest zu sein. Bald organisierten Studenten führender Universitäten riesige Aufmärsche, die zu Zusammenstößen mit der Polizei führten. Nach und nach wurden Straßen und Plätze im ganzen Land zu Zentren des Widerstands, während es in den meisten Städten zu beachtlichen Demonstrationen kam. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete der Südosten, wo sich die kurdische politische Bewegung, noch immer aktiv mit der Regierung verhandelnd, von den Protesten fern hielt.
Ein großer Anteil der Protestierenden sind junge Menschen, die İmamoğlu als ihre einzige Hoffnung gegen die repressive und verarmende Politik ansehen, die sie der AKP zuschreiben. Manche beteiligen sich zum ersten Mal an Protesten und zeigen damit eine Veränderung in ihrem politischen Engagement. Sie beginnen, sich über die Beschränkungen der Wahlurne und der sozialen Medien hinwegzusetzen und lernen, ihre Forderungen in der Öffentlichkeit zu äußern.
Diese Proteste haben das Potenzial, das Zweiparteiensystem zu sprengen, das die türkische Politik seit Jahrzehnten prägt. Viele junge Demonstranten haben die Führer der CHP — darunter auch den Vorsitzenden Özgür Özel — für deren vorsichtige und versöhnliche Haltung offen kritisiert. Die Verhaftung İmamoğlus in Verbindung mit der Unfähigkeit der CHP, darauf wirkungsvoll zu reagieren, könnte Menschen dazu bringen, sich nach neuen politischen Alternativen umzusehen.
Sozialistische Parteien stellen unter diesen Alternativen eine unwiderstehliche Option dar. Trotz ihrer begrenzten Präsenz bei Wahlen haben sie eine bemerkenswerte Organisation und aktive Teilnahme an den Protesten gezeigt. Um sich diesen Impuls zunutze zu machen, müssen sozialistische Parteien über die Fokussierung auf den Wahlkampf eines İmamoğlu und einer AKP hinausgehen und den öffentlichen Widerstand gegen die AKP in konkrete politische Forderungen kanalisieren. Um eine breitere, inklusivere politische Transformation voranzubringen — eine Transformation, die die Türkei letztlich aus den Fängen des Neoliberalismus und des Islamismus befreien könnte — ist dieser Wandel von entscheidender Bedeutung. Hierin liegt die wahre Hoffnung auf Veränderung.
Dieser Text wurde zuerst am 04.04.2025 auf www.mronline.org unter der URL <https://mronline.org/2025/04/04/what-is-happening-in-turkey-the-rentier-opposition-and-the-resistance/> veröffentlicht. Lizenz: Mehmet Özbağcı, Monthly Review online, CC BY-NC-ND 4.0


