(Bild: PxHere/CC0)
„Through the Eyes of Love“: Ein anderer Blick auf die internationale Politik
Das Lied „Through the Eyes of Love“ von Melissa Manchester war 1980 für einen Oscar nominiert. Die Musik zum Film „Eisfieber“ (englisch: Ice Castles) wird seither von Tausenden Paaren als Hochzeitslied ausgewählt und beim Eröffnungstanz gespielt. Im Jahr 2023 wurde das Stück neu interpretiert und neu aufgenommen, denn „die Botschaft dieses Liedes ist zeitlos und immer noch wahr“, so die Sängerin.
Aber warum ist gerade dieser Song über die Liebe so beliebt? Die Antwort darauf gibt uns das Lied selbst, denn darin heißt es: Der Blick „durch die Augen der Liebe“ lässt uns „die Wahrheit erkennen“.
Nun widerspricht diese Idee allerdings der vorherrschenden Politik der internationalen Beziehungen. Danach sollen wir der Tatsache ins Auge schauen und ehrlich bekennen, dass Staaten und Menschen von Angst getrieben sind.
Aufgrund dieser Überzeugung werden viele Studenten und Diplomaten darin geschult, die Welt der internationalen Politik durch die Brille der Angst zu betrachten und zu analysieren, um sie zu verstehen und sich ihr nähern zu können.
Was aber würde passieren, wenn wir die Welt durch die Augen der Liebe betrachteten? In diesem Artikel plädiere ich für einen Blick auf die internationalen Beziehungen aus Perspektive der Liebe.
Ich beginne mit einer Beschreibung der angstbasierten Perspektive auf internationale Beziehungen und weise auf einige ihrer Mängel hin. Danach skizziere ich die liebevolle Perspektive und diskutiere einige ihrer Vorteile. Abschließend vergleiche ich Angst und Liebe, um die Frage zu beantworten, was am wichtigsten ist.
Die Welt durch die Brille der Angst betrachten
Ich leugne nicht die Auswirkungen der Angst und ihre Rolle in der Welt. Der Historiker Herbert Butterfield sagt: „Angst ist etwas außerordentlich Lebendiges, solange sie uns im Griff hat“ (Patterson und Joustra 2022, 5). Er weist auch darauf hin, dass wir nicht immer erkennen oder erkennen wollen, „wie oft sich eine falsche Politik auf Angst zurückführen lässt, ebenso ein unredliches Verhalten, eine prahlerische Art oder sogar eine grausame Handlung“ (Patterson und Joustra 2022, 5). Angst spielt in den internationalen Beziehungen eine große Rolle.
Vor einigen Monaten wurde das Europäische Parlament gewählt. „Nie wieder!“ ist ein Slogan, mit dem Politiker gerne für die Europäische Union werben: Die EU wurde gegründet, um den Ausbruch eines weiteren Weltkriegs zu verhindern; deshalb können vernünftige Menschen nichts anderes tun, als für eine Erweiterung der Europäischen Union zu stimmen – so das Argument. Hier wird die Angst genutzt, damit Menschen für eine bestimmte Sache stimmen.
In einem Interview mit Gustave Gilbert während der Nürnberger Prozesse sagte der hochrangige Nazi-Führer Hermann Göring einmal:
„Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland noch in England noch in Amerika und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.“
Gilbert erwiderte: „Es gibt einen Unterschied: In einer Demokratie haben die Menschen durch ihre gewählten Vertreter ein gewisses Mitspracherecht, in den Vereinigten Staaten kann dagegen nur der Kongress Kriege erklären.“ Darauf antwortete Göring:
„Oh, das ist alles schön und gut, aber ob mit oder ohne Stimme, die Menschen können immer auf die Seite der Anführer gebracht werden. Das ist einfach. Man muss ihnen nur sagen, dass sie angegriffen werden – und die Pazifisten als unpatriotisch denunzieren und ihnen vorwerfen, das Land einer Gefahr auszusetzen. Das funktioniert in jedem Land auf die gleiche Weise.“ (Mölder 2011, 242)
Thomas Hobbes glaubte, dass Angst eine entscheidende Rolle bei der Schaffung unserer sozialen Institutionen spielt; Niccolò Machiavelli erklärte dem Fürsten, es sei viel sicherer, „gefürchtet zu sein als geliebt“, weil die „Angst vor Bestrafung“ nie versagt. Und schon vor ihm vermutete Thukydides, ein Stratege und Geschichtsschreiber der griechischen Antike, die stärksten Motive politischer Akteure seien „Ansehen, Angst und Eigeninteresse“ (Edinger 2021, 1).
Die Perspektive der Angst, wie wir sie aus der Studie der internationalen Beziehungen kennen, lautet wie folgt: Internationale Beziehungen sind durch Anarchie gekennzeichnet.
Das bedeutet: Es gibt keine übergeordnete supranationale Autorität, die aggressive oder egoistische Staaten in Schach hält. Daher ist das Kräfteverhältnis ein wichtiges Instrument und eine wichtige Strategie. Da man sich der Absichten anderer Staaten nicht sicher sein kann, sollte man vom Schlimmsten ausgehen, wie es der offensive Realismus tut.
Die andere Option ist der nicht-offensive Realismus. Dieser Strategie folgend werden institutionelle Maßnahmen ergriffen, beispielsweise die Gründung der EU. Damit lässt sich die Unsicherheit über die Absichten anderer verringern und damit auch die Angst davor (Tang 2008, 451).
Diese Angstperspektive hat jedoch ihre Schwächen. Erstens: Sie ist oft historisch ungenau oder unangemessen. War Furcht also tatsächlich der Hauptantrieb und die Hauptmotivation für das Projekt der europäischen Einigung?
Werfen wir einen Blick auf einen der Gründerväter der europäischen Einigung, Robert Schuman. Er sah Europa als eine spirituelle und kulturelle Gemeinschaft, die mindestens 2.000 Jahre zurückreicht. Mit dem Westfälischen Frieden hatte man diese Einheit aber bereits zerschlagen. Auch der Zweite Weltkrieg stellte eine schreckliche Störung dieser Einheit dar. Es gab also andere, positivere Beweggründe für den Beginn des Projekts der Vereinigung: zum Beispiel die Wiederherstellung der Einheit Europas, die seit dem Westfälischen Frieden nicht mehr gegeben war.
Die Gründer der EU waren nicht in erster Linie gegen, sondern für etwas, nämlich für die Einheit Europas (Harryvan und Polinder 2021, 14–19). Der Ausgangspunkt war also nicht Angst, sondern die Liebe zur Einheit. Politiker spielen gerne die Angstkarte, wenn es um Europa geht. So proklamieren sie beispielsweise eine starke EU, um der Bedrohung durch Russland begegnen zu können oder der Abhängigkeit von China. Meiner Ansicht nach wird dabei aber übersehen, dass die Menschen die europäische Kultur lieben und sich um sie sorgen, ebenso ihr soziales Wohlfahrtssystem, ihre Solidarität und ihre Menschenrechte.
Zweitens: Angst gibt keine Norm oder Richtung vor. Wenn aber Angst der Ausgangspunkt der Analyse ist – nach welchen Normen lässt sich darüber entscheiden, ob die Angst gerechtfertigt ist (Hartnett 2023, 211)? Joustra schreibt dazu:
„Angst ist schließlich keine primäre Emotion. Sie ist eine reaktive Emotion und eng verknüpft mit dem grundlegenderen Gefühl von Bindung, Verlangen und Liebe. Wir würden kaum etwas fürchten, was wir zuvor nicht geliebt hätten. So fürchten wir um unser Leben, weil wir es lieben. Wir fürchten uns vor Verletzungen oder Schmerzen, weil wir unsere Gesundheit, die Leichtigkeit und Beweglichkeit unseres Körpers lieben. Wir fürchten uns kollektiv vor dem Verlust von Macht, Reichtum und Ansehen, weil wir diese Dinge lieben, und das zumeist in angemessener Weise.
Macht, Reichtum und Status sind in gewissem Maße notwendig für sauberes Wasser, sichere Straßen, profitable Geschäfte und die Kindererziehung. Bestünde keine Gefahr, dass all dies geschwächt oder gar ausgelöscht wird – wir hätten nichts zu befürchten. Deshalb steht die Angst auch an zweiter Stelle, und nicht an erster, sie ist damit sekundär. (…) Sie ist eine Reaktion auf das Primäre, das Grundlegende, das unsere Politik und unser Gemeinwesen belebt: die Liebe.“ (Joustra, 2024)
Keine Angst vor der Liebe
Ich bin nicht der Erste, der sich für die Perspektive der Liebe einsetzt. Die Idee stammt von Robert Joustra. Er selbst ist von den Ideen des Augustinus über die Liebe inspiriert (Patterson und Joustra 2022, 7, 8). Nach Ansicht Augustinus’ ist Liebe die Grundhaltung aller Menschen gegenüber der Realität.
Nach Augustinus ist Liebe nicht nur ein Gefühl oder ein flüchtiges Gefühl, sie ist vielmehr eine tiefgreifende Ausrichtung der Seele, eine treibende Kraft, die unser Handeln, unsere Wünsche und unser Streben lenkt.
Der Mensch wird in Liebe geschaffen und durch Liebe geprägt. Augustinus unterteilt die Liebe in zwei Hauptkategorien: die Liebe zu Gott und die Liebe zu sich selbst. Je nach Richtung oder Ausrichtung ist die Liebe gut oder schlecht. Die eigennützige Liebe (cupiditas) drückt sich in Eigeninteresse, Stolz oder Hochmut aus. Die aufopfernde Liebe (caritas) findet ihren Ausdruck dagegen in der selbstlosen Sorge um den anderen. Bei jedem Menschen und in jeder Nation findet sich eine Mischung aus beiden Arten der Liebe. Richtig geleitete Liebe erlaubt Dir, „zu lieben und zu tun, was du willst“ (Hartnett 2024, 210).
Mit anderen Worten: Die grundlegende Einstellung des Menschen gegenüber der Welt ist Liebe. Aber die Richtung dieser Liebe kann positiv oder negativ sein, gut oder böse. Das Handeln bleibt jedoch ein Akt der Liebe.
Die Herausforderung besteht darin, die aufopferungsvolle Liebe in der internationalen Politik anzuwenden und zu etablieren. Reinhold Niebuhr hat dies versucht. Für ihn war die widerstandslose Liebe das kritische Grundprinzip, für jedes Konzept von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist die Annäherung an Brüderlichkeit, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annimmt und ein ausgewogenes Machtverhältnis erfordert. Dieses Gleichgewicht der Kräfte würde jedoch immer in einem Spannungsverhältnis zum Ideal der Liebe stehen, denn ohne den Einfluss der Liebe bleibt von der Gerechtigkeit nicht mehr als die bloße Ordnung. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich behaupte nicht, dass Ordnung unwichtig ist. Ohne Ordnung wird es keine Gerechtigkeit geben. Aber Ordnung ohne Gerechtigkeit ist nicht von Dauer (Epp 1991, 16, 17). Für Niebuhr ist Gerechtigkeit jene Liebe, die sich ihren Weg durch die Welt bahnt (Rice 2008, 275).
Der liberale Eckhard Zimmern hat viel zur Entstehung und Gestaltung der internationalen Beziehungen beigetragen. Der überaus einflussreiche Internationalist vertrat die Ansicht, dass Liebe, verstanden als familiäre Liebe, das Commonwealth konstituierte. Zimmern spielte eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung des British Empire zum Commonwealth. Seiner Meinung nach bildete Liebe das Fundament des Commonwealth und lieferte zugleich den moralischen Zweck: „Das Commonwealth ist eine Organisation, geschaffen nach dem Leitmotiv von Liebe und Brüderlichkeit“ (Hartnett 2024, 206–208).
Ein weiteres Beispiel ist der klassische Realist Hans Morgenthau. 1952 sagte er seinen Studenten:
„Keine politische Gesellschaft kann dauerhaft harmonisch und stabil existieren, ohne sowohl den Wunsch nach Macht als auch den Wunsch nach Liebe zu berücksichtigen“ (Hartnett 2024, 218).
Macht, die auf Herrschaft basiert, ist unvollständig und schwach; eine von Liebe getragene Macht dagegen verspricht Langlebigkeit. Herrschaft, Ideen, Ideale und Institutionen werden nicht durch Zwang aufrechterhalten, sondern durch „spontane Zustimmung“ (Hartnett 2024, 218). Liebe hat die Funktion, Maßstäbe, Regeln, ja sogar Gesetze vorzugeben. Liebe ist der normative Rahmen, um Gemeinschaften zu schaffen, Gewalt (im Sinne von Zwang, Anm. d. Red.) zu legitimieren und den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu stärken. Die Liebe ist der Stoff, der Gemeinschaften zusammenhält. Die Liebe lässt Gefühle zu, damit die Menschen handlungsfähig sind, aber auch um negative Handlungen einzuschränken. Die Liebe ist wesentlicher Bestandteil einer wirksamen, gerechten Machtausübung (Hartnett 2024, 202).
Es hat Vorteile, auch die internationalen Beziehungen mit den Augen der Liebe zu betrachten:
Erstens: Man wird historischen Ereignissen eher gerecht, wenn man sie aus der Perspektive der Liebe betrachtet – zu beobachten am Beispiel des Projekts der europäischen Einigung.
Zweitens: Liebe kann Handlungen einschränken und sanktionieren (Hartnett 2024, 214). Man braucht die Liebe, um Macht lenken zu können. Die Liebe schafft Ordnung, weil sie dem internationalen Denken und Handeln Sinn und Zweck verleiht (Hartnett 2024, 219). Ohne diese ordnende Liebe wird der Realismus, auch Ultrarealismus genannt, zynisch – nationale Interessen und das Streben nach Macht werden das politische Handeln bestimmen. Wie Robin Lovin sagt: „Wir müssen auf ein Urteil vertrauen, das jenseits unseres eigenen liegt. Wir brauchen Hoffnung, die über die sichtbaren Ergebnisse unseres Handelns hinausgeht. Und schließlich brauchen wir Liebe, die uns davor bewahrt, in unserem Eigennutz zu verharren.“ (Sabella 2017, 61–63).
Drittens: Das Konzept der Liebe erklärt, warum Menschen in der Politik höhere Maßstäbe anstreben und warum so viele Regierungen und Diktatoren versuchen, als Diener des Volkes zu erscheinen: Sie werden geliebt (Sabella 2017, 97)!
Viertens: Liebe kann fehlgeleitet werden. Das erklärt jene Ereignisse, in denen Liebe fehlt und stattdessen die Angst dominiert. Da stellt sich doch die Frage: Entsteht Angst als Ersatz für fehlgeleitete Liebe? Schließlich ist Liebe eine Quelle der Kreativität und damit der Hoffnung (Hartnett 2024, 212). Niebuhr glaubt an den „wichtigen verbleibenden kreativen Faktor in der menschlichen Rationalität“, der eine Quelle für Gerechtigkeit sein könnte – verstanden als Liebe, die sich ihren Weg in der Welt bahnt (Rice 2008, 275). Damit ist Niebuhr optimistischer oder hoffnungsvoller als Morgenthau. Der ehemalige Präsident Barack Obama baute auf der Tugend der Hoffnung sogar seine Präsidentschaftskampagne auf:
Hoffnung ist kein blinder Optimismus. Sie ignoriert nicht die Größe der vor uns liegenden Aufgabe oder die Hindernisse auf unserem Weg. Die Hoffnung lehnt sich nicht zurück, sie drückt sich nicht vor einem Kampf. Die Hoffnung ist das in uns, was darauf besteht, dass uns trotz aller gegenteiligen Beweise etwas Besseres erwartet – wenn wir den Mut haben, danach zu greifen, dafür zu arbeiten und dafür zu kämpfen. Hoffnung ist der Glaube daran, dass das Schicksal nicht für uns geschrieben wird, sondern von uns – von jenen Männern und Frauen, die sich nicht damit zufriedengeben, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, und die den Mut haben, die Welt so zu gestalten, wie sie sein sollte (New York Times, 2008).
Angst oder Liebe – was ist am wichtigsten?
„Angst ist in dieser grausamen Welt der Menschen wichtiger als Liebe.“ Ist das ein berechtigtes Gegenargument, selbst wenn die Perspektive der Liebe eine angemessenere oder überzeugendere Sicht auf die Welt der internationalen Beziehungen bietet?
Ich forsche schon lange an der Frage, was in den internationalen Beziehungen von Bedeutung ist. In meiner Dissertation habe ich mich mit der Rolle der Religionen in den internationalen Beziehungen befasst. In diesem Zusammenhang wiederholen Menschen gerne Stalins Frage: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ (Tréguer 2022). Diese Redewendung soll die Missachtung von Religion und Moral gegenüber der materiellen Macht zum Ausdruck bringen. Dasselbe scheint bei der Liebe der Fall zu sein. Ist Liebe nicht ein sentimentales Gefühl, das immer gegen die Angst verliert? Man versucht den Eindruck zu erwecken, die Angst sei real, eine gesicherte Tatsache, auf die man sich verlassen kann – während Liebe Glauben und Vertrauen erfordert.
Das Problem gestaltet sich schwierig, denn es gilt zu beweisen, was in internationalen Beziehungen die größte Bedeutung hat. Die Frage lautet: Wie misst man Angst? Herbert Butterfield sagt: „Es ist in der Geschichte fast unmöglich, Gefühle zu erfassen: Wie lässt sich beispielsweise der Schrecken beschreiben, den Napoleon auslöste? Wie die Angst der Deutschen vor Russland? Wie kann man die Atmosphäre von Robespierre und seiner Schreckensherrschaft (während der Französischen Revolution, Anm. d. Red.) verstehen und interpretieren?“ (Patterson und Joustra 2022, 5). Dasselbe könnte man über die Liebe sagen. Wie misst man sie?
Selbst wenn man die Bedeutung der Angst messen könnte, würde die Schlussfolgerung auch von den eigenen Annahmen, den eigenen Werten und der eigenen Weltanschauung abhängen, mit denen man die Angst als messbare Größe interpretiert. Sehen Sie die Welt beispielsweise als im Wesentlichen gut an? Oder als absurd? Auch diese Einstellung beeinflusst, wie Sie die Ereignisse in der Welt und den Lauf der Geschichte interpretieren. Geht die Welt „vor die Hunde“? Gibt es einen endlosen Kampf zwischen Gut und Böse? Oder ist der Lauf der Geschichte letztendlich nicht doch nur die Geschichte von Evolution und Fortschritt? Vielleicht ist all das auch nur die Summe von Umständen, ein absurdes Theaterstück, in dem Menschen nur Marionetten sind. Die Tatsache, dass Annahmen, persönliche Werte und Weltanschauungen eine Rolle spielen, bedeutet nicht, dass eine Position nicht plausibler sein kann als eine andere. Gestatten Sie mir deshalb den Versuch aufzuzeigen, warum die Perspektive der Liebe wichtiger ist als die der Angst.
Das Wörterbuch definiert Angst als „ein unangenehmes Gefühl oder einen unangenehmen Gedanken, der dadurch entsteht, dass man sich vor etwas Gefährlichem, Schmerzhaftem oder Schlechtem fürchtet oder sich Sorgen darüber macht, dass es passiert oder passieren könnte“.
Angst ist kein Laster, kann aber zu Feigheit führen – ohne die Fähigkeit, seine begründete Angst in einzelnen Situationen zu überwinden. Angst kann die Tugend des Mutes erfordern – die Angst zu überwinden ist mutig. Die Gegenspieler der Angst sind Ruhe, Zuversicht, Glaube sowie Vertrauen oder Liebe.
Liebe ist eine Tugend. Und Tugenden sind wichtig – das wissen wir. Internationale Beziehungen beispielsweise kann man als eine Form der sozialen Kooperation betrachten. Damit meine ich (in Anlehnung an Alasdair MacIntyre) eine kohärente Form der menschlichen Zusammenarbeit, die darauf abzielt, bestimmte Ziele oder Güter auf der Grundlage bestimmter Standards zu erreichen. Die Akteure der real ausgeübten internationalen Beziehungen sind Institutionen mit staatlichem oder nicht staatlichem Charakter jedweder Couleur.
Das Ziel dieser Praxis ist Gerechtigkeit, und die Grundregel lautet: Man braucht Macht, um dieses Ziel zu erreichen. Das Ausüben dieser Macht wird durch kulturelle, wirtschaftliche, soziale und rechtliche Regeln bestimmt. Die Menschen, welche die Macht ausüben, sind zum Beispiel politische Entscheidungsträger, Staatsoberhäupter, Diplomaten und Aktivisten. Sie haben ihre beruflichen Qualitäten – wichtig sind aber auch die Qualität und die Quantität ihrer Tugenden (Polinder 2024, 186–204). Von entscheidender Bedeutung ist zum Beispiel die Tugend der praktischen Weisheit – vor allem, wenn das Streben nach Macht mit dem Streben nach Gerechtigkeit kollidiert. Selbst der bekannte Neorealist Kenneth Waltz räumt ein, dass „Tugendhaftigkeit, Fähigkeiten und Entschlossenheit helfen können“, die Anarchie des Systems zu überwinden (Waltz 1986, 344). Tugenden unterstützen das aktive und gelebte Streben nach dem Guten. Sie befähigen uns, die Schäden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen, die uns begegnen, praktisch zu überwinden – und sie wird uns zunehmend mit Selbsterkenntnis ausstatten und mit der Fähigkeit, das Gute zu erkennen (Ainley 2017, 7).
Wenn Liebe also eine Tugend ist und Angst ein Gefühl – wie hängen beide zusammen? Und welche Rolle spielen sie? Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen:
„Tugenden sind die Lehrer unserer Emotionen und Wünsche. Die Tugenden bestimmen zum Teil, wie wir intuitiv Ereignisse wahrnehmen, wie wir uns selbst sehen, wofür wir uns schämen oder was wir loben. Auf diese Weise bestimmen sie zum Teil unsere emotionalen Vorlieben, unsere Entscheidungen und Auswahlmöglichkeiten (Nullens 2023).
Angst kann als Filter fungieren, durch den institutionelle Akteure andere Institutionen oder Staaten wahrnehmen, vergleichbar mit der Art, wie Ideologie und Weltanschauung die Wahrnehmung eines Individuums beeinflussen und damit auch die Bandbreite der von ihm in Betracht gezogenen politischen Optionen. Informationen, die der etablierten Sichtweise der anderen Seite und der von ihr ausgehenden Bedrohung widersprechen, werden mit großer Wahrscheinlichkeit herausgefiltert.“ (Edinger 2021, 4)
Anders formuliert: Tugenden sind die Disposition (von Gesinnung und Haltung geprägte Eigenschaften, Anm. d. Red.) der Akteure und Praktiker in der Praxis der internationalen Beziehungen – und Emotionen sind die Filter, durch die diese Praktiker die Welt betrachten. Mir scheint die Disposition eines Akteurs oder Praktikers in den internationalen Beziehungen grundlegender zu sein als der Filter, durch den jemand die Welt betrachtet. Deshalb denke ich, dass Liebe wichtiger ist. Gleichzeitig sollte aber gesagt werden, dass der Filter, durch den ein Mensch die Welt betrachtet, sehr wirkungsvoll sein kann, weil er die verfügbaren Optionen einschränkt.
Fazit
Das Lied „Through the Eyes of Love“ wurde ursprünglich für den Film „Ice Castles“ geschrieben. Lexie, die Hauptfigur des Films, ist durch einen Schlittschuhunfall erblindet. Aber sie überwindet ihre Ängste und Probleme und verwirklicht ihre Träume, weil es ihr gelingt, mit den Augen der Liebe zu sehen. Auf die gleiche Weise gibt die Liebe auch den Akteuren in der Praxis der internationalen Beziehungen Hoffnung und bewirkt, dass sie sich nicht von der Angst beherrschen lassen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Ängste und Sorgen nicht mehr zeitgemäß sind? Passen sie noch zu der Realität unserer Welt und zu dem, was wir dagegen tun können?
Die Liebe ermöglicht uns eine andere Perspektive. Mit den Augen der Liebe können wir das Schöne und Gute sehen – zum Beispiel Menschen, die in entlegene Gebiete reisen, um Flüchtlingen zu helfen; oder Frauen, die sich gegen gewalttätigen Extremismus in Nigeria zur Wehr setzen; aber auch Soldaten, die ihr Leben riskieren, um Bürger zu schützen; und nicht zuletzt Völker und Nationen, die sich bei Naturkatastrophen gegenseitig helfen. Die Liste ließe sich immer weiter fortsetzen. (Patterson und Joustra 2022, 6).
Angst ist ein Gefühl mit großem Einfluss. Sie prägt unsere Sicht auf die Welt und auf die Urteile und Entscheidungen von Menschen. Man kann von der Angst beherrscht werden. Meiner Meinung nach ist Angst aber als analytisches Instrument für die Betrachtung der internationalen Beziehungen nicht geeignet. Ich ziehe Liebe als Perspektive vor.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Butterfield schließen:
„Es scheint, wir sind unfähig, den Dämon des Schrecklichen im direkten Kampf zu bezwingen. (…) Lasst uns den Teufel bei den Hörnern packen und ihn mit einer Dosis jener sanfteren Tugenden überraschen, die für ihn Gift sein werden. Spätestens dann, wenn die Welt in äußerster Not ist, wird die Lehre der Liebe zum ultimativen Maßstab unseres Verhaltens .“ (Patterson und Joustra 2022, 6)
Dieser Artikel ist der Gewinner des E-International Relations Article Award 2024 [3], gesponsert von Edinburgh University Press [4], Polity [5], Sage [6], Bloomsbury [7] und Routledge [8].
Dieser Text wurde zuerst am 10.09.2024 auf www.e-ir.info unter der URL <https://www.e-ir.info/2024/09/10/through-the-eyes-of-love-looking-at-international-politics-differently/> veröffentlicht. Lizenz: Simon Polinder, E-International Relations, CC BY-NC-ND 4.0
Quellen:
[2] Cambridge Dictonary, „Fear“, <https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/fear>
[3] E-International Relations, „The 2024 E-International Relations Article Award“, <https://www.e-ir.info/award/>
[4] Edinburgh University Press, „Politics & International Relations“, <https://edinburghuniversitypress.com/books/subjects/politics>
[5] Polity, „politics 2024“, <https://ocean.exacteditions.com/issues/115123/spread/1>
[6] Sage, „Politics & International Relations“, <https://uk.sagepub.com/en-gb/eur/political-science-international-relations>
[7] Bloomsbury, „Politics & International Relations“, <https://www.bloomsbury.com/uk/academic/politics-international-relations/>
[8] Routledge, „Politics & International Relations Books“, <https://www.routledge.com/politics-international-relations>
• Ainley, Kristen. 2017. “Virtue Ethics and International Relations.” In Oxford Research Encyclopedia, International Studies.
• Edinger, Harald. 2021. “Fear in International Relations.” E-International Relations.
• Epp, Roger I. 1991. The Augustinian Moment in International Politics: Niebuhr, Butterfield, Wight and the Reclaiming of a Tradition (Aberystwyth: University College of Wales).
• Harryvan, Anjo and Simon Polinder. 2021. “De katholieke inspiratie van de Europese eenwordingsgedachte: de rol van de vier ‘heiligen.’” Sophie (4).
• Hartnett, Liane. 2024. “How Love Orders: An Engagement With Disciplinary International Relations.” European Journal of International Relations 30 (1): 203–226.
• Joustra, Robert J. 2024. Christ & His Leviathans: A Christian Introduction to International Relations. Illinois: IVP Academic, draft manuscript. Used by permission.
• Mölder, Holger. 2011. “The Culture of Fear in International Politics – A Western-Dominated International System and Its Extremist Challenges.” ENDC Proceedings 14: 241–263.
• New York Times. 2008. Barack Obama’s Caucus Speech
• Nullens, Patrick. 2023. “Economische Deugden.” ESB.
• Patterson, Eric D., and Robert J. Joustra. 2022. Power Politics and Moral Order: Three Generations ofChristian Realism – A Reader. Oregon: Wipf and Stock Publishers.
• Polinder, Simon. 2024. Towards a New Christian Political Realism. London: Taylor & Francis Group.
• Rice, Daniel. 2008. “Reinhold Niebuhr and Hans Morgenthau: A Friendship With Contrasting Shades of Realism.” Journal of American Studies 42 (2): 255–291.
• Sabella, Jeremy. 2017. An American Conscience. Wm. B. Eerdmans Publishing.
• Tang, Shiping. 2008. “Fear in International Politics: Two Positions.” International Studies Review 10 (3): 451–71.
• Tréguer, Pascal. 2022. “History of the Phrase ‘How Many Divisions Has the Pope?’” Word Histories.
• Waltz, K. N. (1986). Reflections on theory of international politics: A response to my critics. Neorealism and its Critics, 322-45.