Symbolbild, erstellt mit Ideogram (KI), gemeinfrei)
Schlafwandler: Die Deutschen und die Kriegsgefahr
Warum bleiben die Ängste vor einer Ausweitung des Ukrainekrieges stumm und folgenlos?
„Vielleicht wird es der späte Historiker noch rätselhafter finden als wir Zeitgenossen, dass, obwohl allmählich fast jedes Kind wusste, dass man vor Kriegen stand, die auch für den Sieger das entsetzlichste Leiden mit sich brachten, dennoch die Massen nicht etwa mit verzweifelter Energie alles unternahmen, um die Katastrophe abzuwenden, sondern auch noch ihre Vorbereitung durch Rüstungen, militärische Erziehung usw. ruhig geschehen ließen, ja sogar unterstützten.“
Mit diesen Worten des Psychoanalytikers Erich Fromm habe ich vor über 40 Jahren ein Buch über Angst – genauer: Nicht-Angst – und atomare Aufrüstung eingeleitet, das im Mai 1984 erschien. [1] Fromm hatte diese Sätze am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, 1937, in seinem Aufsatz „Über die Ohnmacht“ formuliert.
Apathie und Schockstarre
Warum ich nun vier Jahrzehnte später meinen Vortrag wiederum mit diesem Zitat eröffne, das bedarf, leider!, keiner weiteren Erläuterung. Nach wie vor tobt im Osten Europas ein Krieg, der nicht nur „für den Sieger“ – falls es den überhaupt geben und was auch immer hier mit „Sieg“ genau gemeint sein sollte –, sondern auch für zahlreiche weitere Akteure, nicht zuletzt für unser Land, Deutschland, „entsetzlichste Leiden“ mit sich bringen wird, nein: bereits mit sich bringt. Denn selbst wenn die Kampfhandlungen – hoffentlich! – bald ein Ende haben sollten, steht uns ja nach wie vor für das kommende Jahr die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper (die sogenannte „Nachrüstung 2.0“) ins Haus und die gerade beschlossenen irrwitzigen Pakete neuer Sonderschulden von Hunderten Milliarden für die schnellstmögliche „Kriegstüchtigkeit“ unseres Landes werden uns vermutlich eher früher als später, ganz bestimmt aber unsere Kinder und Enkel – falls es sie dann noch geben sollte – einholen.
Nur, dass diese Gefahr, genauso wie vor über 85 Jahren, offenbar niemanden groß zu interessieren, gar aufzuregen scheint! Von den drei bundesweiten Friedensdemonstrationen, die in den letzten beiden Jahren in Berlin stattfanden, brachte es die größte – sehr, sehr wohlwollend gerechnet – auf maximal ein Fünftel der 250.000 Menschen, die kürzlich am 8. Februar allein in München „Gegen Rechts!“ demonstrierten. [2]
Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit
Mittlerweile frage ich mich nur noch, was mich fassungsloser macht: Die Ungeniertheit und die an suizidalen Größenwahn grenzende Skrupellosigkeit, mit der Politiker, Militärs und Medien hierzulande nahezu im Gleichklang und jeden Tag schriller bis an die Schmerzgrenze eskalieren – oder die Apathie und Schockstarre, mit der die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen dies alles kritik- und klaglos über sich ergehen lässt.
Dabei scheint es unter der Oberfläche durchaus zu brodeln. Erheblich mehr Menschen als auf den ersten Blick sichtbar, scheint es langsam mulmig zu werden. So äußerten im Februar letzten Jahres im Rahmen einer INSA-Umfrage 61 Prozent der Bundesbürger die Befürchtung, der Ukrainekrieg könne sich auf NATO-Gebiet ausweiten [3]. Im August 2024 fürchteten 45 Prozent der Bundesbürger gar eine Ausweitung des Ukrainekrieges auf Deutschland [4]. Und bereits seit über zwei Jahren wünscht sich eine überwältigende Mehrheit der Deutschen – zwischen 63 [5] und 68 Prozent [6] – ein stärkeres Engagement der Bundesregierung für Friedensverhandlungen. Laut Shell-Jugendstudie 2024 äußerten 81 Prozent der jungen Deutschen Angst vor einem Krieg in Europa [7]. Und am 11. März diesen Jahres wurde eine weitere INSA-Umfrage veröffentlicht, nach der eine Mehrheit der jungen Deutschen – 52 Prozent der 18- bis 29-Jährigen und 50 Prozent der 30- bis 39-Jährigen – es gar für „wahrscheinlich hält, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“ [8].
All dies ist angesichts des medialen Dauerfeuers aus allen offiziellen Kanälen durchaus bemerkenswert. Andererseits bleibt die allgemeine unterschwellige Unruhe stumm und auf der Handlungsebene völlig folgenlos, sodass man sich fassungslos fragt, wo eigentlich der längst fällige Aufschrei bleibt.
Und auch das ist nicht neu.
Im Mai 1980, also vor fast 45 Jahren, schrieb der 2011 verstorbene Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter im Vorfeld der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa:
„Nahezu die Hälfte unserer Bevölkerung glaubt laut Umfragen an die Möglichkeit eines Krieges. Die Leute sind betroffen, aber sie rühren sich kaum. Wie können Menschen in Passivität und zumindest äußerlicher Gelassenheit auf demoskopischen Fragebögen bejahen, dass ein großer Krieg bevorstehen könnte? Warum reagieren wir so, als handele es sich hier um ein unbeeinflussbares Naturereignis, obwohl in dieser Angelegenheit doch alles, was geschieht, in der Macht menschlicher Berechnung und Entscheidung liegt?“ Horst-Eberhard Richter damals weiter: „Wir Bürger fühlen uns in einen seltsam unmündigen Zustand versetzt, der uns zugleich die Sprache verschlägt“, und er diagnostizierte der Bevölkerung „Sprachlosigkeit und stumpfe Unbeweglichkeit“.
Die Parallele zur aktuellen Situation springt förmlich ins Auge.
Warum war das damals so? Und warum ist es heute wieder so?
Dafür gibt es allgemeine Gründe, die in der atomaren Situation selbst liegen und aktuelle Gründe, die sich aus der veränderten geopolitischen Lage des wiedervereinigten Deutschlands seit der wahren Zeitenwende Ende der Achtziger-/Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ergeben. Ich werde Ihnen in meinem Vortrag zunächst die allgemeinen, dann die aktuellen Gründe vorstellen, bevor ich Ihnen einige Gedanken für eine dringendst benötigte, breite „Friedensbewegung 2.0“ ans Herz lege.
I: Allgemeine Gründe für die Verdrängung der (Atom-)Kriegsgefahr
Spätestens mit der für das kommende Jahr von Noch-Kanzler Scholz und den USA im Alleingang beschlossenen, erneuten Stationierung von Mittelstreckenraketen (genauer: Hyperschallraketen) und Marschflugkörpern, die innerhalb kürzester Zeit strategische Ziele in der Tiefe Russlands einschließlich des Kreml und russische Atomwaffenlager pulverisieren könnten, macht sich unser Land „freiwillig“ zur Zielscheibe russischer Präventivschläge, die durchaus auch atomar geführt werden könnten. (Und im Gegensatz zur Nachrüstung der Achtzigerjahre betrifft das diesmal – aus welchen Gründen auch immer – nur Deutschland allein!)
Und noch einmal: Warum diese beklemmende Apathie, warum diese erschreckende Unbeweglichkeit unserer Bevölkerung angesichts dieser immensen Bedrohung, die sich ja durchaus bis hin zu einem mit thermonuklearen Waffen durchgeführten Dritten Weltkrieg auswachsen könnte?
Zu groß! – Unsere Apokalypse-Blindheit
Die Antwort lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Zu groß!
Die Bedrohung ist absolut zu groß.
Schließlich sind „wir Menschen“ mit den von uns selbst hergestellten Untergangsgeräten bekanntlich in der Lage, unseren Planeten nicht nur einmal, sondern x-mal zu vernichten!
Keiner hat sich über diesen Sachverhalt schon vor vielen Jahrzehnten so scharfsinnige Gedanken gemacht und diese so präzise auf den Begriff gebracht wie der Philosoph Günther Anders (1902-1992). Seine klassische Formel lautet: Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können! Bereits vor fast 70 Jahren schrieb er:
„Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.“
Wir sind größer und kleiner als wir selbst
In diesem Sinne also sind wir kleiner als wir selbst: Herstellen können „wir Menschen“ die Apokalypse, vorstellen aber können wir sie uns nicht! Unsere Vorstellungen bleiben weit hinter den Effekten zurück, die unsere Handlungen zeitigen können. Die Technik selbst ist uns, wie weiland Goethes „Zauberlehrling“, in Gestalt der menschgemachten Vernichtungsgeräte, längst über den Kopf gewachsen. (Analoges gilt selbstverständlich auch für die ebenfalls von „uns Menschen“ hergestellte sogenannte Künstliche Intelligenz!) Anders formuliert: Als Handelnde – genauer: als „Hersteller der Zerstörung“, sprich: „Destructores“ – haben wir eine fast gottgleiche Allmacht erlangt. Als Vorstellende dagegen sind wir Zwerge!
Günther Anders nannte dieses Phänomen unsere Apokalypse-Blindheit.
Was ich nur weiß, macht mich nicht heiß
Die Bedrohung ist also zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten. Die Bedrohung ist zudem so über alle Maßen entsetzlich, dass wir sie uns gar nicht vorstellen mögen. Die Bedrohung ist darüber hinaus überall – „Die Erde hat keinen Notausgang!“ – und damit: nirgends!
Die Folgen: Was zu groß ist, was unser kognitives und erst recht unser emotionales Fassungsvermögen überschreitet und was zugleich als Möglichkeit überall und permanent präsent ist, das bleibt, um nochmal Günther Anders zu zitieren, „nur ein Wort“. Es bleibt reines abstraktes Wissen, damit in unmittelbarer Nähe zum Nichtwissen und damit – konsequenzenlos! Günther Anders: „Was ich nur weiß – macht mich nicht heiß!“
Die erste infernalische Regel lautet also: „Je größer die Gefahr, desto geringer unser Widerstand, desto leichter kann sie eintreten!“
Gewissenhaftigkeit ersetzt Gewissen
Werfen wir nun kurz einen Blick auf die Hersteller der Zerstörungsgeräte. Es sind viel mehr als wir denken und der Prozess ihrer Herstellung bis zum möglichen Einsatz ist typisch für die Produktionsweise in einer höchst arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. In der Regel sind die meisten von uns ja damit beschäftigt, ein angeblich unentbehrliches Geräteteil für ein angeblich unentbehrliches Modul für ein angeblich unentbehrliches Produkt herzustellen, das wir am Ende gar nicht kennen – womöglich ein Massenmordgerät! „Tätig“ sind die meisten von uns also als Zahnrädchen, eingebunden in ein gigantisches Getriebe, dessen Endeffekt wir nicht überschauen – oft gar nicht überschauen wollen!
Wir handeln also gar nicht, wir machen – ohne über unseren Tellerrand hinauszusehen, frei nach dem Motto „Was ich nicht kann, geht mich nichts an!“ – blind für das Endziel einfach mit! Gewissenhaftigkeit – sprich: die korrekte Erledigung der uns als Zahnrädchen übertragenen Aufgaben – ersetzt Gewissen, nämlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Endziel der Maschinerie, die uns einbindet, überhaupt ethisch verantwortbar ist.
Und da wir „Zahnrädchen“ sind, gilt für unsere Wahrnehmung wie für unsere Seele die Devise: „Arbeitsteilung ist Gewissensteilung!“ Sollte zum Schluss doch etwas schief gelaufen sein, waren es alle und damit – keiner! Günther Anders: „Schmutz geteilt durch tausend = sauber!“
Die zweite infernalische Regel lautet demnach: „Je mehr Menschen involviert sind, desto leichter kann das Inferno eintreten.“
Auslösen ersetzt Handeln
Weiter: Nehmen wir an, ein amerikanischer Offizier startet auf Befehl „von oben“ in einem Raketensilo in Montana eine Interkontinentalrakete Richtung Russland. Was macht er da eigentlich? Handelt es sich hierbei wirklich um eine Handlung? Oder löst er nicht tatsächlich nur noch eine längst vorinstallierte Maschinerie aus? Und was macht er eigentlich, wenn er etwas auslöst? Eigentlich macht er, obwohl der Effekt seines Tuns die Vernichtung, also das Nichts sein kann, so gut wie – nichts! Ob er eine Espressomaschine einschaltet oder tausende Kilometer entfernt Hundertausende Menschen in Leichen verwandelt, macht von der Attitüde her keinen Unterschied.
Die dritte infernalische Regel lautet also: „Auslösen ersetzt Handeln.“
Schlimmer noch: Im Zeitalter hyperrealistischer Computersimulationen verschwimmt immer mehr die Grenze zwischen Schein und Sein! Kriegsspiele und echte Kriege haben sich bis zur Deckungsgleichheit einander angenähert. Die Simulation eines Raketenangriffes unterscheidet sich in nichts mehr von der tatsächlichen Durchführung und kann im einen wie im anderen Falle via Knopfdruck, gar Klick erledigt werden. Und mit zunehmendem Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird sich selbst das eher früher als später erledigt haben …
Je größer das Verbrechen, desto leichter die Durchführung
Und da Tat- und Leidensort Tausende Kilometer auseinander liegen, wird unser Offizier in Montana auch gar nicht direkt mit den Effekten seines „Tuns“ konfrontiert werden. Ja, er muss noch nicht mal einen einzigen Russen hassen, um Hunderttausende von ihnen zu töten! (Dasselbe gilt selbstverständlich umgekehrt für seinen Konterpart bei Moskau.)
Hunderttausende Menschen durch das Auslösen einer entsprechenden Maschinerie – sprich: Interkontinentalrakete – zu töten, ist also ungleich leichter, als einen einzigen Menschen „handmade“ ins Jenseits zu befördern! (Letzteres, sagen wir: mit einem Messer, würden unsere sensiblen Offiziere in Montana und Moskau vielleicht gar nicht hinkriegen.)
Die vierte infernalische Regel lautet demnach: „Je größer das Verbrechen, desto leichter seine Durchführung!“
Und dafür brauchen wir auch gar keine „bösen“ Menschen mehr. Ein kommender mit thermonuklearen Bomben geführter Dritter Weltkrieg wäre der hassloseste Krieg der Menschheitsgeschichte! Anders formuliert: Die Situation selbst ist so abgrundtief böse geworden, dass für die Realisierung des absolut Bösen, böse Menschen gar nicht mehr nötig sind.

Charlie Chaplin in „Modern Times“, 1936. (Foto: John Irving, Flickr, CC BY-NC-SA 2.0)
Die Dinge lügen
Und noch ein weiterer Umstand begünstigt die mögliche Apokalypse: Man sieht den Dingen ihre Bewandtnis nicht mehr an. Während man einem altmodischen Messer noch genau ansehen kann, was es anrichten kann, sehen „Gegenstände“ wie eine Atombombe – gesetzt der Fall, man bekäme sie tatsächlich zu Gesicht – tausendmal harmloser aus, als sie es tatsächlich sind. Der Effekt einer Atombombe ist im Vergleich zu ihrem Aussehen unvorstellbar – zu groß!
Günther Anders hat dies auf die Formel – und das wäre die fünfte infernalische Regel – „Die Dinge lügen!“ gebracht und von „negativer Protzerei“ gesprochen.
Zusammenfassung
Es sind also zusammengefasst folgende Charakteristika der atomaren Situation, die es uns so schwer machen, wirklich zu erfassen, auf welch abschüssiger Bahn wir uns längst befinden:
- Die Bedrohung ist zu groß, als dass wir sie uns noch adäquat vorstellen könnten.
- Sie ist zu entsetzlich, als dass wir sie uns noch vorstellen mögen.
- Sie ist unsichtbar, räumlich also nicht zu orten und damit überall und nirgends.
- Zahllose Menschen sind – alle auf das Indirekteste – in die Herstellung der Untergangsgeräte eingebunden.
- Das finale Inferno kann im Ernstfalle auf das Leichteste realisiert werden: Am Ende wird es ein via Künstlicher Intelligenz von einem Computer gesteuerter Computer gewesen sein!
II: Aktuelle Gründe für die Verdrängung der (Atom-)Kriegsgefahr
Kommen wir nun zu den aktuellen Gründen für die Verdrängung der (Atom-)Kriegsgefahr. Im ersten Kalten Krieg war Deutschland Frontstaat: Beide deutsche Staaten wären das Schlachtfeld der Supermächte gewesen, hier also kein Stein auf dem anderen geblieben und das war damals allen Menschen in der alten Bundesrepublik und in der DDR bewusst. Heute hat sich die Bedrohung „gefühlt“ rund tausend Kilometer nach Osten verlagert. Der aktuelle Krieg findet (noch?) nicht hier statt, sondern die Völker schlagen – um ein Zitat aus Goethes „Faust“ zu paraphrasieren – „hinten, weit, in der Ukraine“ aufeinander. Dass der Krieg durchaus sehr schnell auch auf NATO-Gebiet übergreifen und unser Land hineinziehen könnte, dass schon ein „atomarer Schlagabtausch“ in der Ukraine oder in den östlichen NATO-Staaten auch hier unabsehbare Folgen haben würde, spielt psychologisch so gut wie keine Rolle.
Wir sehen überdies eine starke Generationenpolarität, was die Sensibilität von Kriegsgefahr und atomarer Bedrohung angeht. Die völlig falsche, sachlich überhaupt nicht haltbare „Logik“ lautet hier: Den Jungen das Klima, den Alten der Frieden! (Das Wort „Ökopax“, das Anfang der Achtzigerjahre in aller Munde war und das sich die damaligen GRÜNEN auf die Fahnen geschrieben hatten, ist bezeichnenderweise in Vergessenheit geraten.)
Dass auf den wenigen und vergleichsweise mäßig besuchten Friedensdemonstrationen die „Generation 60 plus“ erdrückend dominiert [9] – womit nicht gesagt sei, dass die überwiegende Mehrheit wenigstens dieser Generation sich friedenspolitisch engagiert –, ist natürlich kein Zufall: Diese Generation wurde ihrerseits von der Kriegsgeneration ihrer Eltern geprägt und ist aufgewachsen mit Atomkriegsängsten, vor allem während der Zeit der sogenannten „Nachrüstung“ in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre.
Ängste, die nun wiederkommen.

Zuwachs an Mitgliedern der NATO in Europa, erstellt am 7.3.2024. (Karte:Patrickneil und Spesh531, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Die rüstungspolitische Abstinenz der Klimaschützer
Die junge Klimaschützer-Generation dagegen scheint erschreckenderweise auf dem rüstungspolitischen Auge nahezu blind zu sein [10]. Und dafür gibt es meines Erachtens im Wesentlichen folgende Gründe:
- Die wichtigste Rolle spielt vermutlich ein Phänomen, das man am Treffendsten als „fatalen Nebeneffekt der Gorbatschow‘schen Abrüstungspolitik“ bezeichnen könnte. Wer heute um die 35 Jahre alt ist, hatte das unschätzbare Glück, zumindest von Atomkriegsängsten unbehelligt aufwachsen zu können. Mit Abschluss des INF-Vertrages Ende 1987, also des Verbots von landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen, dem Ende des (wie wir heute desillusioniert feststellen müssen: ersten) Kalten Krieges und der Verschrottung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit schien ja die akute Atomkriegsgefahr in Europa gebannt. Nein: dass es überhaupt nochmal zu einem „atomaren Schlagabtausch“, gar zu einem globalen Atomkrieg zwischen den Supermächten kommen könne, war vorübergehend in den Bereich des Unvorstellbaren gerückt. Auf diese Weise kamen die zeitweise höchst virulenten Atomkriegsängste (vorerst) zum Erliegen. Die Welt, so schien es jedenfalls, hatte in den Neunzigern bis in die Nullerjahre hinein durch die „Friedensdividende“ endlich Freiraum und Ressourcen, sich um andere, ebenfalls drängende Menschheitsprobleme und -gefahren zu kümmern. – Kein Wunder, dass die in dieser glücklichen Epoche herangewachsene Generation auch kein Problembewusstsein für die – nach wie vor existierende, lediglich vorübergehend aus dem Blickfeld geratene – Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit entwickelt hat.
- Gleichzeitig stirbt die Kriegsgeneration aus und auch die Generation, die durch den Kalten Krieg und die mit ihm untrennbar verbundenden (Atom-)Kriegsängste geprägt ist, wird zusehends älter. Mit anderen Worten: Die heute junge Generation weiß selbst vom Hörensagen kaum noch, was Krieg tatsächlich bedeutet! Und von der Atombombe wissen viele vermutlich nicht sehr viel mehr, als dass das wohl eine besonders schlimme Waffe sein soll… Im aktuellen Ukrainekrieg gibt es zudem eine „feindübergreifende Allparteienkoalition“ der Verteidigungsminister, Regierungssprecher und Medien. Russen, Ukrainer, Deutsche und andere achten tunlichst darauf, uns alle mit Bildern von den tötenden und sterbenden Männern an der Front und dem Elend der Kriegsinvaliden zu verschonen. (Allein auf ukrainischer Seite dürften, unabhängigen Schätzungen zufolge, inzwischen 600.000 Soldaten gefallen sein, auf russischer Seite mehr als 100.000 [11].) Man will uns einen „Krieg ohne Krieger“ [12], also die Illusion vermitteln, Krieg sei eine klinisch reine Joystickoperation!
- Zudem kommt, dass man sich „Kriegstreiber“ immer noch in erster Linie als martialische Gestalten vorstellt, die in Knobelbechern, Stahlhelmen oder Pickelhaube wild um sich brüllen. Den smarten, biederen und eher etwas unbedarft wirkenden Gestalten, die in der deutschen Regierung den Ton angeben und die zudem allesamt um ihr makelloses Menschenrechts- oder Öko-Image besorgt sind, mag man nicht zutrauen, dass sie einen ins Verderben führen könnten… (Eher schon unserem, unverständlicherweise von seinem Volk zum beliebtesten Politiker gekürten Kriegstüchtigkeitsminister, der – bislang noch? – der Einzige mit diesem Habitus ist.)
- Das jeder jungen Generation eigene Empörungspotenzial schließlich ist in erster Linie durch den zweifellos dringend gebotenen Kampf gegen die Erderwärmung erfolgreich okkupiert. Was noch übrig bleibt, wird von Themen wie „Kampf gegen Rechts“ [13], Gender und Political Correctness absorbiert. Die Medien liefern darüber hinaus tagtäglich jede Menge „Ablenkängste“. Dazu passt – das hat der Psychologe und Amerikanist Jonas Tögel präzise herausgearbeitet [14] –, dass die NATO vor Kurzem den Bereich der „Kognitiven Kriegsführung“ („Cognitive Warfare“) zum offiziellen sechsten Kriegsschauplatz erklärt hat und nun Unsummen in diesen Bereich pumpt. Zahllose Startups beziehen hier ein sehr einträgliches Auskommen. Und was früher „Propaganda“, später „Public Relations“ genannt wurde, heißt nun „Strategische Kommunikation“ … (Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die Techniken der Massenmanipulation, die der Psychologe Rainer Mausfeld in seinen Büchern beschrieben hat.)
All dies geschieht auf Basis einer nahezu freiwillig gleichgeschalteten (öffentlichen und privaten) Medienlandschaft, wo von der FAZ bis zur taz bei allen relevanten Themen dieselbe Meinung verbreitet wird sowie auf dem Hintergrund, dass die gesamte Gesellschaft bereits einen Ausnahmezustand mit drastischen Einschränkungen der Grundrechte erlebt hat, die sie weitestgehend klag- und widerstandslos über sich ergehen ließ.

Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss in Bonn, 10.10.1981. (Foto: Rob Bogaerts / Anefo, Wikimedia Commons, CC0)
III. Eine neue Friedensbewegung – as soon as possible!
Deutschland, nein: Europa durchlebt gerade die gefährlichste Phase seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. Selbst wenn das wechselseitige Töten und Sterben in der Ukraine hoffentlich bald beendet sein sollte, werden in Europa anschließend keineswegs friedliche Zustände herrschen. Solange nicht alle – alle! – europäischen Staaten (also inklusive Russland, Belarus und alle anderen Nicht-EU-Staaten) sich auf eine neue Sicherheitsstruktur auf der Basis des Prinzips der gemeinsamen Sicherheit geeinigt haben, steht unserem Kontinent im „besten Falle“ ein Kalter Krieg 2.0 mit einer zu beiden Seiten streng bewachten, die Ukraine von Norden bis zum Schwarzen Meer durchteilenden neuen „Berliner Mauer“ bevor [15]. Die Ukraine wird das „geteilte Deutschland“ (oder das „geteilte Korea“) des Neuen Kalten Krieges sein. Und im Worst Case werden an der hochmilitarisierten Demarkationslinie Soldaten aus europäischen NATO-Staaten – sehr wahrscheinlich auch Bundeswehrsoldaten – russischen Soldaten Auge in Auge gegenüberstehen. Ein höchst fragiler „Frozen Conflict“ also, der jederzeit absichtlich oder versehentlich in einen heißen Krieg unter Einbeziehung von Soldaten aus NATO-Staaten umkippen könnte!
Der voraussichtlich neue Bundeskanzler hat gerade wieder öffentlich mit dem Gedanken einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gespielt [16], die unser Land zur Zielscheibe russischer Vergeltungsschläge machen würde. Er wird mit Sicherheit auch die von seinem Vorgänger eingefädelte „Nachrüstung 2.0“ durchwinken, die unser Land in eine Zielscheibe russischer Präventivschläge verwandeln wird! Die neue Regierungskoalition – für die nach wie vor die Worte „Diplomatie“ und „Deeskalation“ tabu sind – hat gerade unter dem saloppen Motto „Whatever it takes“ unvorstellbare Summen von hunderten Milliarden (zur Erinnerung: Hundertausende Millionen!!) für die Rüstungsindustrie genehmigt und für die Zukunft nichts weniger als ein „Ermächtigungsgesetz in Sachen Aufrüstung“ in Aussicht gestellt. Im neuen Bundestag wird zudem keine Partei mehr vertreten sein, die einer Militarisierung kompromisslos entgegentritt.
Bliebe nur noch der zivile Widerstand „von unten“ in Gestalt einer neuen breiten Friedensbewegung, die heute leider noch nicht einmal in Ansätzen existiert…
Dennoch: Passivität und Resignation können wir uns nicht leisten. Der irrwitzigen Aufrüstungswelle mit Summen von über einer halben Billion Euro, die – wie die atomare Situation selbst – ebenfalls unvorstellbar „zu groß“ sind; der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper; der Erziehung einer gesamten Gesellschaft zur „Kriegstüchtigkeit“ dürfen wir bei Strafe unseres Unterganges nicht saturiert entgegenschnarchen. Wieder gilt der Spruch aus den Achtzigerjahren: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Generälen und Politikern zu überlassen!“
Daher nochmal und sei es zum hundertsten Male:
Was alle treffen kann, betrifft uns alle. Ein Atomkrieg kennt keinen Gewinner, sondern ausschließlich Verlierer. Entweder wir schaffen die Atombombe ab oder die Atombombe schafft uns ab! Wer den Frieden will, der muss – in Umkehrung des klassischen lateinischen Dictums – den Frieden vorbereiten.
Sollte sich die Politik der neuen Eskalation noch weiter verschärfen und ihr „von unten“ in Form einer neuen breiten und kraftvollen Friedensbewegung kein Druck entgegengesetzt werden, dann droht in letzter Konsequenz nichts weniger als – Globozid! Sei es militärisch via Massenvernichtungsmittel oder „friedlich“ als Klimakatastrophe. Resignation oder Trägheit können wir uns nicht leisten. Nach wie vor gilt Einsteins Ermahnung:
„Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt.“
Konkret: Wir müssen uns weigern, Feinde zu sein! Es geht darum, den zivilen Ungehorsam und den gewaltfreien Widerstand gegen die irrwitzige Aufrüstung und die forcierte Formierung unseres Landes zur „Kriegstüchtigkeit“ wieder zu erlernen und einzutrainieren. Es geht darum, endlich Sand im Getriebe der Kriegsvorbereitung zu werden.
Vielleicht könnte uns dabei ja ein Satz von Michail Gorbatschow aus dem Jahre 2017 anspornen:
„Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“
Dieses Text wurde in 2 Teilen zuerst am 17./19.03.2025 auf www.overton-magazin.de unter den URL´s: Teil 1: <https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/schlafwandler-die-deutschen-und-die-kriegsgefahr/> und Teil 2: <https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/schlafwandler-die-deutschen-und-die-verdraengung/> veröffentlicht. Lizenz: Leo Ensel, Overton Magazin, CC BY-NC-ND 4.0
Quellen:
[1] Amazon, Leo Ensel „Richtige Angst und falsche Furcht“, im Oktober 1984: <https://www.amazon.de/Richtige-Angst-falsche-Furcht-Franz-Josef/dp/3596233445>
[2] NachDenkSeiten, Leo Ensel „Das große Ablenkungsmanöver – Millionen gegen Rechts, wie viele gegen Krieg und Aufrüstung?“, am 26.2.2025: <https://www.nachdenkseiten.de/?p=129340>
[3] WELT, Newsticker „Umfrage: 61 Prozent fürchten Ausweitung des Ukraine-Kriegs“, am 25.2.2024: <https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/Politik__Inland_/article250261476/Umfrage-61-Prozent-fuerchten-Ausweitung-des-Ukraine-Kriegs.html>
[4] EMMA Magazin, Insa-Umfrage „Krieg: Mehrheit will Verhandlungen!“, am 23.8.2024: <https://www.emma.de/artikel/ukraine-krieg-mehrheit-fuer-friedensverhandlungen-341207>
[5] Tagesspiegel, Red. „Umfrage zum Ukrainekrieg: Mehrheit der Deutschen wünscht sich stärkeres Engagement der Regierung für Friedensverhandlungen“, am 26.2.2023: <https://www.tagesspiegel.de/internationales/umfrage-zum-ukrainekrieg-mehrheit-der-deutschen-wunscht-sich-starkeres-engagement-der-regierung-fur-friedensgesprache-9413837.html>
[6] siehe [4]
[7] Shell Website, Shell Jugendstudie 2024, Informationsmaterial: <https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie-2024/informationsmaterial-2024.html>
[8] Junge Freiheit Zeitung, Insa-Umfrage „Große Kriegsangst bei Jungen / USA verlieren an Ansehen“, am 11.3.2025: <https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2025/grosse-kriegsangst-bei-jungen-usa-verlieren-an-ansehen/>
[9] NachDenkSeiten, Leo Ensel „„Make Love, Not War!“ – oder: Auf der Suche nach Friedensfrechheit“, am 23.1.2025: <https://www.nachdenkseiten.de/?p=127678>
[10] NachDenkSeiten, Leo Ensel „Ökopax? – Warum die jungen Klimaschützer auf dem rüstungspolitischen Auge blind sind“, am 11.12.2023: <https://www.nachdenkseiten.de/?p=108050>
[11] Infosperber Nachrichtenportal, Patrik Baab „Der Ukraine-Krieg oder die historische Niederlage des Westens“, am 9.3.2025: <https://www.infosperber.ch/politik/welt/der-ukraine-krieg-oder-die-historische-niederlage-des-westens/>
[12] NachDenkSeiten, Leo Ensel „Krieg ohne Krieger – oder: Das phantomhafte Töten und Sterben an der Front“, am 7.9.2023: <https://www.nachdenkseiten.de/?p=103460>
[13] siehe [2]
[14] Westendverlag, Jona Tögel „Kognitive Kriegsführung“, veröffentlicht am 10.7.2023:<https://westendverlag.de/Kognitive-Kriegsfuehrung/1634>
[15] NachDenkSeiten, Leo Ensel „Das Lied von der kommenden Dolchstoßlegende“, am 8.10.2024: <https://www.nachdenkseiten.de/?p=122669>
[16] BR24, Bayern 2 Nachrichten „Merz plädiert für mehr nukleare Abschreckung in Europa“, am 9.3.2025: <https://www.br.de/nachrichten/meldung/merz-plaediert-fuer-mehr-nukleare-abschreckung-in-europa%2C30070dec5>