06/2024

Magazin

Die Wild-West Doktrin

Dieses Magazin gibt es auch als PDF Download

Realpolitik

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Mit dieser Ausgabe von Free21 erhalten sie unser Sonderheft „Die Tunander Protokolle“ und die letzte Ausgabe des Magazins für 2024. Die Titelgeschichte dieses Heftes und der letzte Artikel sind wie unser Sonderheft von fundamentaler Bedeutung und werden auch in einigen Jahren noch kein Altpapier sein.

Ein Grundproblem unserer Medien ist, dass sie von Tatsachenmeldungen überquellen, von Bruchstücken der Realität, aber keine Übersicht über unterschiedliche Interpretationsrahmen liefern, die eine kritische Analyse ermöglichen. Die unterschiedlichen Interessen und Beweggründe der Handelnden in Konflikten werden nicht erläutert. Im Gegenteil, durch die Sperrung von Feindsendern „wie einst im Reich“ wird der falsche Eindruck einer einheitlichen Sicht aller seriösen Berichterstatter und Handelnden erzeugt, die sich von der Desinformation und Propaganda der „Anderen“ abhebt, vor der Staatsbürger und Demokratie geschützt werden müssen.
Der Dialog der beiden intellektuellen Schwergewichte John Mearsheimer und Jeffrey Sachs ist genau solch ein bitter nötiger Überblicksartikel von seltener Klarheit und Klugheit.

Jeffrey Sachs legt dar, dass nur ein besseres Verständnis der Hintergründe, Interessen und Absichten aller Konfliktparteien untereinander einen Kompromiss auf diplomatischem Wege ermöglicht und unnötige militärische Konflikte verhindert. Ein Diplomat muss auch die kulturellen Prägungen der Konfliktparteien in seine Analyse einbeziehen. Diese umfassende Gedankenarbeit ist die vornehmste und wichtigste Aufgabe von Außenpolitikern.

John Mearsheimer vertritt die Ansicht von Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert, dass in einer ungeregelten Welt der Machtpolitik, des ständigen Krieges aller gegen alle, der einzige Weg zu einem stabilen Frieden ein absolut übermächtiger Staat ist, der Leviathan, ein Monster, der die anderen Konfliktparteien zum Frieden zwingt. Die Hauptaufgabe der US-Außenpolitik ist also, den Machtvorsprung der USA zu sichern und auszubauen. Als Werkzeuge dafür gibt es die US-Geheimdienste, das Militär, die weltweiten Finanz­institutionen und das US-Außenministerium. Mearsheimer ist kein bellizistischer Neocon, wie sie in den USA seit der Reagan-Ära die Außenpolitik dominieren, egal ob bei Demokraten oder Republikanern. Mearsheimer ist ein rationaler Realpolitiker, der Krieg vermeiden will.

Aber seine Argumentation zeigt gleichzeitig, dass diese amerikanische Außenpolitik nur für ein Land akzeptabel ist: die USA selbst. Der Wille der USA zur Macht ist ein sich selbst genügendes Ziel. Für alle anderen Staaten bietet diese Doktrin nur die Option, sich einzufügen und zu gehorchen, um drakonischen Strafen des Hegemon zu vermeiden.

Das erzeugt zwangsläufig den Versuch verschiedener Staaten, sich unabhängig zu machen, so wie sich die USA einst selbst von ihrem Hegemon, dem britischen Empire unabhängig gemacht haben.

Das in aller Klarheit zu benennen, ist die Voraussetzung für eine realistische deutsche und europäische Außenpolitik, die sich ihrer Interessen bewusst ist. Die Lösung der Aufgabe, eine Ordnung zu entwerfen, die für alle Staaten dieser Welt akzeptabel ist, würde Deutschland besser zu Gesicht stehen, als die suizidale Nibelungentreue zum Hegemon USA, die den derzeitigen Niedergang auf allen Gebieten erst möglich gemacht hat.
Ich wünsche ihnen „sapere aude“ und ein gutes, neues Jahr!

Dirk Pohlmann, Chefredakteur Free21

Inhalt der Ausgabe

  • Die amerikanische Außenpolitik

    „Beim ‚All-In Summit‘ schlossen sich zwei der provokantesten Stimmen in der Außenpolitik, John Mearsheimer von der University of Chicago und Jeffrey Sachs von der Columbia University, den Gastgebern des ‚All-In‘-Podcasts für eine umfassende Diskussion an, die die Schichten der globalen Machtdynamik freilegte. Unter der Moderation von David Sacks wurde die Rolle ...weiterlesen

  • „Nur die allerdümmsten Kälber …“

    Leider kann das verdiente Ende der Ampelregierung, die sich schon längst selbst überlebt hatte, nicht die geringste Erleichterung oder gar Freude auslösen. Denn: Schlimmer geht immer! Die Optionen Überlegen wir mal kurz, welche Regierung uns in Deutschland nach dem 23. Februar kommenden Jahres vermutlich blühen wird. Auch wenn Herr Habeck sich ...weiterlesen

  • Die Geschichte zweier PsyOps

    Niemand wusste, wie man das Imperium nennen sollte, weil es so etwas in der Geschichte noch nie gegeben hatte. Es hatte keine äußeren Gegner, also blieb ihm nichts anderes übrig, als „das Gebiet zu säubern und zu halten“, d. h. inneren Widerstand zu neutralisieren und seine Herrschaft über den Planeten zu ...weiterlesen

  • Das Ende neokonservativer Wahnvorstellungen

    Der jüngste BRICS-Gipfel in Kasan, Russland, dürfte das Ende der neokonservativen Wahnvorstellungen markieren, die im Untertitel von Zbigniew Brzezinskis Buch „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ aus dem Jahr 1997 zusammengefasst sind. Seit den 1990er Jahren ist das Ziel der amerikanischen Außenpolitik die „Vorherrschaft“, auch bekannt als globale Hegemonie. Kriege, ...weiterlesen

  • Die kulturelle Soft Power der multipolaren BRICS-Staaten

    Der Westen, der am Ende seiner Tage angelangt ist, fasziniert niemanden mehr. Das gilt nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell. Andererseits ist Kultur politisch, denn wenn Politik die „Sorge um das Gemeinwohl“ ist, wie Aristoteles schrieb, und Kultur die Gesamtheit des materiellen, sozialen und spirituellen Lebens eines Volkes in ...weiterlesen

  • Eurasien organisiert sich selbst, während Europa sich kastriert

    An mangelnder Relevanz des eurasischen Raums kann es nicht gelegen haben. Dass Eurasien als Weltregion relevant ist, wird auch ohne die Geopolitik-Theorien von Alfred Thayer Mahan, Halford Mackinder oder in neuerer Zeit auch von Zbigniew Brzeziński klar, wenn man sich verdeutlicht, dass in diesem Raum – unabhängig davon wie man ihn ...weiterlesen

  • Israel will die Arbeit beenden, die Washington nach dem 11. September begonnen hat

    Vor fast einem Jahrzehnt offenbarte mir ein führender israelischer Menschenrechtsaktivist ein privates Gespräch, das er kurz zuvor mit einem der Botschafter Europas in Israel geführt hatte. Er war von dem Gespräch sichtlich aufgewühlt. Das Land des Botschafters galt damals im Westen als eines der Länder, das dem palästinensischen Volk am meisten ...weiterlesen

  • „Was geht mich Gaza an?“

    Neulich fragte mich jemand auf Twitter, warum ihn das, was in Gaza passiert, kümmern sollte, und sagte: „Warum sollte ich mich für jemanden interessieren, der nicht in einem Umkreis von 20 Meilen um meinen Wohnort lebt?“ Ich war ein wenig verblüfft. Ich muss gestehen, dass ich in einer Art Echokammer lebe, ...weiterlesen

  • Wie der Jemen die regionale Macht neu gestaltet

    Das mit Ansarallah (auch Houthis genannt, Anm. d. Red.) verbündete jemenitische Militär ist ein wichtiger Eckpfeiler in der Achse des Widerstands. Es stärkt die Position der Achse des Widerstands im fortwährenden Krieg im Nahen Osten und erreicht mit der Demonstration seiner Macht ganz neue Ebenen. Eine beeindruckende Kraft. Einst als praktischer ...weiterlesen

  • Der Weg zur medialen Autonomie

    „Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.“ Mit diesen einleitenden Worten beginnen Richard David Precht und Harald Welzer Ihr Buch „Die Vierte Gewalt“. Es geht um Journalismus, die Leitmedien und die Schaffung von Realitäten. Wer sich für die Medien und ihre Wirkmacht interessiert, gibt es jede Menge guter Literatur, ...weiterlesen

  • Deutschland – Staat ohne Souveränität im Wachkoma

    Einleitung Betrachtet man die gegenwärtige Situation mit kühlem Auge, kann man sich nur wundern, wie ein Land, das bis vor 90 Jahren kulturell, wissenschaftlich und industriell Maßstäbe setzte, komplett den Kompass verlieren konnte. Zuerst wurde es von Hitler zerstört – die Deutschen ließen das zu. Dann wurde Deutschland zu einem Vasallen ...weiterlesen