ISBN 978-1-949762-78-5,
Clarity Press

Journalismus im 21. Jahrhundert

Wir sprechen und denken an diesem Wochenende über die multipolare Welt nach, die wir erleben, wie sie um uns herum Gestalt annimmt. Wie Xi Jinping, ein prominenter Verfechter dieser Welt, vor nicht allzu langer Zeit feststellte, ist dies eine Zeit großer Herausforderungen, aber auch großer Verheißungen. Ich schließe mich diesem Gedanken an. Und heute Morgen möchte ich einige Bemerkungen zur Rolle, zur Stellung und zur Verantwortung des Journalisten in dieser entstehenden multipolaren Welt machen.

Von Patrick Lawrence , veröffentlicht am: 24. Januar 2025, Kategorien: Medien & Technik

Dieser Text wurde zuerst 2023 auf www.zeit-fregen.ch unter der URL <https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-21/22-sonderbeilage-xxx-kongress-mut-zur-ethik-2023/journalismus-im-21-jahrhundert> veröffentlicht. Lizenz: Patrick Lawrence, Zeit-Fragen, CC BY-NC-ND 4.0

Tiefgreifender Wandel

Journalisten müssen einen tiefgreifenden Wandel durchmachen, um den Herausforderungen und Hoffnungen unserer Zeit gerecht zu werden. Um es mit einem Begriff zu umschreiben, dem ich noch einige hinzufügen möchte, müssen sich Journalisten multipolar aufstellen, wenn sie ihren Augenblick, unseren Augenblick, in der Geschichte widerspiegeln sollen.

Die Aufgabe des Journalisten besteht in jedem Fall darin, die Welt für Leser und Zuschauer darzustellen, die selbst nie viel davon sehen werden. Für den Journalisten, und ich spreche hier vom Korrespondenten, bedeutet „darstellen“ also „neu darstellen“. In der Tat schafft der Journalist Realitäten, und diese Realitäten werden in den Köpfen der Leser und Zuschauer als die Art und Weise, wie die Welt wirklich ist, verankert.

Die Verantwortung, die der Korrespondent trägt, wenn wir seine Arbeit auf diese Weise betrachten, ist offensichtlich. Bis in die heutige Zeit war der Journalist gehalten, ganz aus der Perspektive des Landes zu berichten, zu schreiben oder zu senden, das sein Medium unterstützt. Wenn Sie für eine amerikanische Zeitung schreiben, spiegelt Ihre Arbeit die orthodoxe amerikanische Sichtweise wider.

Die Perspektiven der anderen

Es ist ein feiner Aspekt, aber die Perspektiven der Anderen wird als Abweichung von der Norm dargestellt. Mit anderen Worten: Der Journalist muss innerhalb des Konstrukts arbeiten, das die Wissenschaftler „das Selbst und der Andere“ nennen, und dieses festigen. Es gibt „Wir“, und es gibt „Sie“. Die Arbeit wurde sozusagen mit der Nase an einer Glasscheibe verrichtet, auf deren anderer Seite sich die Menschen und Gesellschaften befanden, über die man berichtete. Es war ein wenig so, als ob der Korrespondent auf sie blickte, als ob er eine dieser Schneekugeln betrachtete, mit denen Sie vielleicht vertraut sind. Zu nahe heranzugehen bedeutete, sich „einheimisch zu machen“, wie man so schön sagt, und das wurde als nicht unbedenkliche Übertretung angesehen. Es war, in Anführungszeichen, „unprofessionell“.

Aus Zeitgründen möchte ich Ihnen einen kurzen Überblick über die Praxis des Journalismus geben, wie sie seit langer Zeit besteht und wie sie heute ist. Der Kalte Krieg war meines Erachtens für den Journalismus die schädlichste Entwicklung des letzten Jahrhunderts, da er das Selbst-und-andere-Narrativ mehr oder weniger institutionalisiert hat. Es ist diese Praxis des Journalismus, die wir jetzt ganz entschieden hinter uns lassen müssen, wenn wir den Herausforderungen unserer multipolaren Welt gewachsen sein und unseren Beitrag zur Erfüllung unserer Hoffnungen für sie leisten wollen.

„Die Neuerfindung des Auslandskorrespondenten“

Ich habe drei Jahrzehnte als Korrespondent, Kommentator und Redakteur im Ausland verbracht und hatte in vielerlei Hinsicht großes Glück. Eines davon war die Art der Publikationen, für die ich arbeitete. Die beiden wichtigsten von ihnen, die „Far Eastern Economic Review“ und die „International Herald Tribune“, waren insofern ungewöhnlich, als sie praktisch keine Nationalität hatten, von der sie aufgefordert wurden, sich anzupassen. Die „Review“ wurde in Hongkong herausgegeben und befand sich mehrheitlich im Besitz einer Bank. Die „Herald Tribune“ war in amerikanischem Besitz, hatte aber ihren Hauptsitz in Paris und hatte daher einen sehr internationalen Blick auf die Ereignisse, im Gegensatz zu einer rein amerikanischen Perspektive. Als ich meine drei Jahrzehnte im Ausland beendet hatte, die meisten davon in Asien und alle im Nicht-Westen, trug ich meine Gedanken in einem Kurs zusammen, den ich an der Universität von Hongkong hielt. Ich nannte ihn „Die Neuerfindung des ,Auslandskorrespondentenʻ“, und das war es, was ich damals als notwendig erachtete – eine Neuerfindung. Ich begann mit Fragen, und es war mir wichtiger, die Fragen zu stellen, als Antworten auf sie zu haben, da sie [die Gedanken] sehr neu waren. Muss die Arbeit eines Korrespondenten immer in seiner eigenen Kultur oder Nationalität verankert bleiben? Muss sie die Annahmen und Voraussetzungen, die Politik und politische Positionierung des Mediums widerspiegeln, für das er berichtet? Oder kann die Arbeit den Korrespondenten so verändern, dass er mehr ist als ein Amerikaner, der für eine amerikanische Zeitung schreibt, oder ein Ägypter, der für eine ägyptische Zeitung schreibt, oder (was heutzutage nicht selten der Fall ist) ein Ägypter oder Brasilianer, der für amerikanische, britische oder Welche-auch-immer-Medien berichtet?

Dies waren keine Träumereien. Ich hielt sie damals, so wie auch heute, für grundlegende Fragen. Die Antwort auf den letzten Gedanken ist leicht zu finden: Nein. Wenn man sich von der Vergangenheit leiten lässt, ist es eine gemeinsame Sichtweise, die eine Kultur definiert, und diese kann nicht aufgegeben werden. Wenn Sie für eine amerikanische Zeitung berichten, werden Sie als „Amerikaner“ tätowiert, und Ihre Arbeit spricht, wenn sie veröffentlicht wird, in der Sprache, der unausgesprochenen Sprache, die in allen Sprachen verborgen ist. Aber meine Jahre in diesem Bereich legen eine andere Antwort nahe. Von allem, was unsere Zeit uns zu sagen hat, ist die erste ihrer Botschaften, dass die Vergangenheit nur so nützlich ist wie ein Navigationsinstrument. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist ein zielgerichteter, kontinuierlicher Akt der Überschreitung – unserer selbst, unserer ererbten Perspektiven, unserer Kulturen. Ich spreche hier nicht davon, so zu tun, als wäre man etwas anderes als das, was man ist – Amerikaner, Deutscher, Brite. Ich spreche von einer neuen Erkenntnis, dass Korrespondenten einen ganz besonderen Platz einnehmen, der von ihnen verlangt, dass sie – im Bewusstsein ihrer Verantwortung und mit der nötigen Selbstdisziplin – ihre Nationalität für die Dauer ihrer Tätigkeit unter anderen hinter sich lassen. Das ist das Projekt, das ich jetzt vorschlage.

Was und wer Korrespondenten sind, was sie tun und wie sie es tun, wo sie im Verhältnis zu denjenigen stehen, über die sie berichten, welche Verantwortung sie gegenüber denjenigen haben, über die sie berichten, und auch gegenüber ihren Lesern oder Zuschauern – all dies erfordert ein grundlegendes Umdenken, sofern diese Fragen bisher jemals in Betracht gezogen worden sind.

„Einheimisch werden“ ist ein Gebot

Einheimisch zu werden, einst eine Grenzüberschreitung, ist nicht nur eine Tugend, sondern ein Gebot. Es bedeutet, viel näher heranzurücken als es die traditionellen Formen zulassen, um die imaginäre Grenze zwischen dem Selbst und dem anderen zu überwinden. Es bedeutet, einen Teil seiner selbst um der Aufgabe willen zurückzulassen. Es bedeutet, über ein anderes Volk zu berichten, nicht mit der Nase an der Scheibe, sondern, nach entschlossener Anstrengung, von innen, aus der Mitte heraus. Friedrich Nietzsche hat dies in einem ganz anderen Zusammenhang als das Ablegen des westlichen Gewandes bezeichnet. Vaćlav Havel nannte das, was ich beschreibe, in einer viel beachteten Rede in der Independence Hall in Philadelphia am 4. Juli 1994 „ein neues Modell des Zusammenlebens, das darauf beruht, dass der Mensch sich selbst transzendiert“. Es gibt noch eine Reihe anderer Namen, die hier zu nennen wären. Rišzard Kapušćinjski, der bekannte polnische Journalist, veröffentlichte ein hervorragendes Buch zu diesem Thema mit dem Titel „Der Andere“. Emmanuel Lévinas, der in Litauen geborene französische Phänomenologe, widmete einen Großteil seines Werks der Frage nach dem Selbst im Verhältnis zum anderen. Er vertrat in der Tat die Ansicht, dass wir den anderen letztlich nicht nur anerkennen, sondern auch Verantwortung für den anderen übernehmen müssen.

Nach einer langen Zeit der Selbsttranszendenz, wie ich sie gerade ganz kurz erwähnt habe, werden Korrespondenten erkennen, so wie ich selbst, dass sie, wenn sie über andere berichten, in einen Spiegel schauen – um so viel über sich selbst zu erfahren wie über diejenigen, denen sie unaufhörlich Fragen stellen. Mir gefällt dieses Wort „transzendieren“, um zu beschreiben, was ich vorschlage. Es ist machbar. Wir können uns selbst transzendieren. Ich habe es getan, und ich bin damit nicht allein. Ich kann nicht zu anderen Schlussfolgerungen kommen, als dass dies ein langer Prozess ist. Mit der Frage des Exzeptionalismus und des Post-Exzeptionalismus verhält es sich genauso: In beiden Fällen spreche ich von einem neuen Bewusstsein. Die Veränderungen, die unsere Zeit von uns verlangt, sind groß und erfordern große Anstrengungen.

Unabhängige Medien

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass diese Aufgabe innerhalb unserer konzerneigenen Medien besonders schwer zu bewältigen sein wird. Ich vertrete seit langem die Auffassung, dass die Verantwortung unabhängiger Medien weitaus größer ist als ihre Ressourcen, dass sie aber nichtsdestotrotz übernommen, ja, sogar angenommen werden muss. Ich beschreibe Ihnen hier nun eine weitere dieser Verantwortlichkeiten. Bei den unabhängigen Medien kann der Journalist in unserer heutigen Zeit am wirksamsten „neu erfunden“ werden, um den Begriff aus meinem Universitätskurs zu übernehmen, damit er den Herausforderungen unseres neuen Jahrhunderts gerecht wird und unsere Hoffnungen für dieses erfüllt.

Journalismus im 21. Jahrhundert

Von Patrick Lawrence , veröffentlicht am: 24. Januar 2025, Kategorien: Medien & Technik

Dieser Text wurde zuerst 2023 auf www.zeit-fregen.ch unter der URL <https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-21/22-sonderbeilage-xxx-kongress-mut-zur-ethik-2023/journalismus-im-21-jahrhundert> veröffentlicht. Lizenz: Patrick Lawrence, Zeit-Fragen, CC BY-NC-ND 4.0

ISBN 978-1-949762-78-5,
Clarity Press

Wir sprechen und denken an diesem Wochenende über die multipolare Welt nach, die wir erleben, wie sie um uns herum Gestalt annimmt. Wie Xi Jinping, ein prominenter Verfechter dieser Welt, vor nicht allzu langer Zeit feststellte, ist dies eine Zeit großer Herausforderungen, aber auch großer Verheißungen. Ich schließe mich diesem Gedanken an. Und heute Morgen möchte ich einige Bemerkungen zur Rolle, zur Stellung und zur Verantwortung des Journalisten in dieser entstehenden multipolaren Welt machen.

Tiefgreifender Wandel

Journalisten müssen einen tiefgreifenden Wandel durchmachen, um den Herausforderungen und Hoffnungen unserer Zeit gerecht zu werden. Um es mit einem Begriff zu umschreiben, dem ich noch einige hinzufügen möchte, müssen sich Journalisten multipolar aufstellen, wenn sie ihren Augenblick, unseren Augenblick, in der Geschichte widerspiegeln sollen.

Die Aufgabe des Journalisten besteht in jedem Fall darin, die Welt für Leser und Zuschauer darzustellen, die selbst nie viel davon sehen werden. Für den Journalisten, und ich spreche hier vom Korrespondenten, bedeutet „darstellen“ also „neu darstellen“. In der Tat schafft der Journalist Realitäten, und diese Realitäten werden in den Köpfen der Leser und Zuschauer als die Art und Weise, wie die Welt wirklich ist, verankert.

Die Verantwortung, die der Korrespondent trägt, wenn wir seine Arbeit auf diese Weise betrachten, ist offensichtlich. Bis in die heutige Zeit war der Journalist gehalten, ganz aus der Perspektive des Landes zu berichten, zu schreiben oder zu senden, das sein Medium unterstützt. Wenn Sie für eine amerikanische Zeitung schreiben, spiegelt Ihre Arbeit die orthodoxe amerikanische Sichtweise wider.

Die Perspektiven der anderen

Es ist ein feiner Aspekt, aber die Perspektiven der Anderen wird als Abweichung von der Norm dargestellt. Mit anderen Worten: Der Journalist muss innerhalb des Konstrukts arbeiten, das die Wissenschaftler „das Selbst und der Andere“ nennen, und dieses festigen. Es gibt „Wir“, und es gibt „Sie“. Die Arbeit wurde sozusagen mit der Nase an einer Glasscheibe verrichtet, auf deren anderer Seite sich die Menschen und Gesellschaften befanden, über die man berichtete. Es war ein wenig so, als ob der Korrespondent auf sie blickte, als ob er eine dieser Schneekugeln betrachtete, mit denen Sie vielleicht vertraut sind. Zu nahe heranzugehen bedeutete, sich „einheimisch zu machen“, wie man so schön sagt, und das wurde als nicht unbedenkliche Übertretung angesehen. Es war, in Anführungszeichen, „unprofessionell“.

Aus Zeitgründen möchte ich Ihnen einen kurzen Überblick über die Praxis des Journalismus geben, wie sie seit langer Zeit besteht und wie sie heute ist. Der Kalte Krieg war meines Erachtens für den Journalismus die schädlichste Entwicklung des letzten Jahrhunderts, da er das Selbst-und-andere-Narrativ mehr oder weniger institutionalisiert hat. Es ist diese Praxis des Journalismus, die wir jetzt ganz entschieden hinter uns lassen müssen, wenn wir den Herausforderungen unserer multipolaren Welt gewachsen sein und unseren Beitrag zur Erfüllung unserer Hoffnungen für sie leisten wollen.

„Die Neuerfindung des Auslandskorrespondenten“

Ich habe drei Jahrzehnte als Korrespondent, Kommentator und Redakteur im Ausland verbracht und hatte in vielerlei Hinsicht großes Glück. Eines davon war die Art der Publikationen, für die ich arbeitete. Die beiden wichtigsten von ihnen, die „Far Eastern Economic Review“ und die „International Herald Tribune“, waren insofern ungewöhnlich, als sie praktisch keine Nationalität hatten, von der sie aufgefordert wurden, sich anzupassen. Die „Review“ wurde in Hongkong herausgegeben und befand sich mehrheitlich im Besitz einer Bank. Die „Herald Tribune“ war in amerikanischem Besitz, hatte aber ihren Hauptsitz in Paris und hatte daher einen sehr internationalen Blick auf die Ereignisse, im Gegensatz zu einer rein amerikanischen Perspektive. Als ich meine drei Jahrzehnte im Ausland beendet hatte, die meisten davon in Asien und alle im Nicht-Westen, trug ich meine Gedanken in einem Kurs zusammen, den ich an der Universität von Hongkong hielt. Ich nannte ihn „Die Neuerfindung des ,Auslandskorrespondentenʻ“, und das war es, was ich damals als notwendig erachtete – eine Neuerfindung. Ich begann mit Fragen, und es war mir wichtiger, die Fragen zu stellen, als Antworten auf sie zu haben, da sie [die Gedanken] sehr neu waren. Muss die Arbeit eines Korrespondenten immer in seiner eigenen Kultur oder Nationalität verankert bleiben? Muss sie die Annahmen und Voraussetzungen, die Politik und politische Positionierung des Mediums widerspiegeln, für das er berichtet? Oder kann die Arbeit den Korrespondenten so verändern, dass er mehr ist als ein Amerikaner, der für eine amerikanische Zeitung schreibt, oder ein Ägypter, der für eine ägyptische Zeitung schreibt, oder (was heutzutage nicht selten der Fall ist) ein Ägypter oder Brasilianer, der für amerikanische, britische oder Welche-auch-immer-Medien berichtet?

Dies waren keine Träumereien. Ich hielt sie damals, so wie auch heute, für grundlegende Fragen. Die Antwort auf den letzten Gedanken ist leicht zu finden: Nein. Wenn man sich von der Vergangenheit leiten lässt, ist es eine gemeinsame Sichtweise, die eine Kultur definiert, und diese kann nicht aufgegeben werden. Wenn Sie für eine amerikanische Zeitung berichten, werden Sie als „Amerikaner“ tätowiert, und Ihre Arbeit spricht, wenn sie veröffentlicht wird, in der Sprache, der unausgesprochenen Sprache, die in allen Sprachen verborgen ist. Aber meine Jahre in diesem Bereich legen eine andere Antwort nahe. Von allem, was unsere Zeit uns zu sagen hat, ist die erste ihrer Botschaften, dass die Vergangenheit nur so nützlich ist wie ein Navigationsinstrument. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist ein zielgerichteter, kontinuierlicher Akt der Überschreitung – unserer selbst, unserer ererbten Perspektiven, unserer Kulturen. Ich spreche hier nicht davon, so zu tun, als wäre man etwas anderes als das, was man ist – Amerikaner, Deutscher, Brite. Ich spreche von einer neuen Erkenntnis, dass Korrespondenten einen ganz besonderen Platz einnehmen, der von ihnen verlangt, dass sie – im Bewusstsein ihrer Verantwortung und mit der nötigen Selbstdisziplin – ihre Nationalität für die Dauer ihrer Tätigkeit unter anderen hinter sich lassen. Das ist das Projekt, das ich jetzt vorschlage.

Was und wer Korrespondenten sind, was sie tun und wie sie es tun, wo sie im Verhältnis zu denjenigen stehen, über die sie berichten, welche Verantwortung sie gegenüber denjenigen haben, über die sie berichten, und auch gegenüber ihren Lesern oder Zuschauern – all dies erfordert ein grundlegendes Umdenken, sofern diese Fragen bisher jemals in Betracht gezogen worden sind.

„Einheimisch werden“ ist ein Gebot

Einheimisch zu werden, einst eine Grenzüberschreitung, ist nicht nur eine Tugend, sondern ein Gebot. Es bedeutet, viel näher heranzurücken als es die traditionellen Formen zulassen, um die imaginäre Grenze zwischen dem Selbst und dem anderen zu überwinden. Es bedeutet, einen Teil seiner selbst um der Aufgabe willen zurückzulassen. Es bedeutet, über ein anderes Volk zu berichten, nicht mit der Nase an der Scheibe, sondern, nach entschlossener Anstrengung, von innen, aus der Mitte heraus. Friedrich Nietzsche hat dies in einem ganz anderen Zusammenhang als das Ablegen des westlichen Gewandes bezeichnet. Vaćlav Havel nannte das, was ich beschreibe, in einer viel beachteten Rede in der Independence Hall in Philadelphia am 4. Juli 1994 „ein neues Modell des Zusammenlebens, das darauf beruht, dass der Mensch sich selbst transzendiert“. Es gibt noch eine Reihe anderer Namen, die hier zu nennen wären. Rišzard Kapušćinjski, der bekannte polnische Journalist, veröffentlichte ein hervorragendes Buch zu diesem Thema mit dem Titel „Der Andere“. Emmanuel Lévinas, der in Litauen geborene französische Phänomenologe, widmete einen Großteil seines Werks der Frage nach dem Selbst im Verhältnis zum anderen. Er vertrat in der Tat die Ansicht, dass wir den anderen letztlich nicht nur anerkennen, sondern auch Verantwortung für den anderen übernehmen müssen.

Nach einer langen Zeit der Selbsttranszendenz, wie ich sie gerade ganz kurz erwähnt habe, werden Korrespondenten erkennen, so wie ich selbst, dass sie, wenn sie über andere berichten, in einen Spiegel schauen – um so viel über sich selbst zu erfahren wie über diejenigen, denen sie unaufhörlich Fragen stellen. Mir gefällt dieses Wort „transzendieren“, um zu beschreiben, was ich vorschlage. Es ist machbar. Wir können uns selbst transzendieren. Ich habe es getan, und ich bin damit nicht allein. Ich kann nicht zu anderen Schlussfolgerungen kommen, als dass dies ein langer Prozess ist. Mit der Frage des Exzeptionalismus und des Post-Exzeptionalismus verhält es sich genauso: In beiden Fällen spreche ich von einem neuen Bewusstsein. Die Veränderungen, die unsere Zeit von uns verlangt, sind groß und erfordern große Anstrengungen.

Unabhängige Medien

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass diese Aufgabe innerhalb unserer konzerneigenen Medien besonders schwer zu bewältigen sein wird. Ich vertrete seit langem die Auffassung, dass die Verantwortung unabhängiger Medien weitaus größer ist als ihre Ressourcen, dass sie aber nichtsdestotrotz übernommen, ja, sogar angenommen werden muss. Ich beschreibe Ihnen hier nun eine weitere dieser Verantwortlichkeiten. Bei den unabhängigen Medien kann der Journalist in unserer heutigen Zeit am wirksamsten „neu erfunden“ werden, um den Begriff aus meinem Universitätskurs zu übernehmen, damit er den Herausforderungen unseres neuen Jahrhunderts gerecht wird und unsere Hoffnungen für dieses erfüllt.