
20. August 2019: Unser Autor Leo Ensel im Gespräch mit Michail Gorbatschow in dessen Moskauer Foundation. (Foto: © Leo Ensel)
Oder: Für ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“
Fragen an Michail Gorbatschow und uns alle
Das wichtigste politische Erbe, das uns Michail Gorbatschow hinterlassen hat, ist das von ihm mitentwickelte und erstmals in die politische Praxis umgesetzte Neue Denken. Es rückte das alle übrigen Gegensätze überwölbende Menschheitsinteresse in den Vordergrund: das Weiterleben als Gattung. – Heute benötigen wir eine Aktualisierung, ein „Neues Denken 2.0“.
Dieser Text wurde in drei Teilen zuerst auf www.globalbridge.ch unter den URL´s: 1. Teil: <https://globalbridge.ch/fuer-ein-zeitgemaesses-neues-denken-2-0-oder-fragen-an-michail-gorbatschow-i/>, Teil 2: <https://globalbridge.ch/deeskalation-jetzt-oder-fragen-an-michail-gorbatschow-ii/>, Teil 3: <https://globalbridge.ch/eine-neue-humanistische-ethik-des-menschlichen-ueberlebens-oder-fragen-an-michail-gorbatschow-iii/> veröffentlicht. Lizenz: Leo Ensel, Global Bridge, CC BY-NC-ND 4.0
„Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau. Im Allgemeinen bedeutete das Neue Denken in der Außen- wie in der Innenpolitik, dass man versuchte, nach dem gesunden Menschenverstand zu denken und zu handeln.“
So hat Michail Gorbatschow selbst in seinem ‚politischen Testament‘, dem zwei Jahre vor seinem Tode veröffentlichten langen Essay „Perestroika verstehen – Neues Denken verteidigen“ [1], die Grundprinzipien seines Neuen Denkens noch einmal umrissen. Heute, zu Zeiten des sich dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieges und der erneuten wechselseitigen Drohung, im Extremfalle sogar Atomwaffen einzusetzen, sind diese Prinzipien dringlicher denn je. Aber sie bedürfen der Aktualisierung. Ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“ müsste im Sinne seines Hauptprotagonisten weiterdenken und an den aktuellen globalen Tendenzen und menschheitsbedrohenden Gefahren ansetzen.
Der Autor dieses Textes wollte im Herbst 2021 noch zusammen mit Michail Gorbatschow ein Interviewbuch über die Bedingungen eines notwendigen „Neuen Denkens 2.0“ verfassen. Das scheiterte daran, dass der gesundheitlich angeschlagene Friedensnobelpreisträger die beiden letzten Jahre seines Lebens im Krankenhaus der Präsidentialadministration verbringen musste und aufgrund der damaligen Coronalage fast keinen Besuch mehr empfangen konnte. Aber die Fragen an eine Aktualisierung des Neuen Denkens bleiben ja virulent. In welche Richtung die Reise hier gehen sollte, deutet der folgende Text an: Und zwar in Gestalt des – aktualisierten – Leitfadens für die Gespräche, die ich mit Gorbatschow noch führen wollte. Nun liegt es an uns allen, die Antworten darauf selbst zu entwickeln.
Der globale Rückfall in das alte Denken
Die Militarisierung der Weltpolitik und der neue kalte und heiße Krieg
- Michail Sergejewitsch, über drei Jahrzehnte nach der „Charta von Paris“ [2], die nicht zuletzt das Resultat Ihres Neuen Denkens und Handelns war, finden wir uns – unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen – nicht nur in einem neuen kalten, sondern in einem blutigen ‚heißen‘ Krieg zwischen dem kollektiven Westen und Russland auf dem Territorium der Ukraine wieder. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden – und zwar stets auf Betreiben der USA – grundlegende Pfeiler der globalen Architektur der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung eingerissen. Am Bedeutendsten waren sicher die durch nichts provozierte amerikanische Kündigung des ABM-Vertrages Ende 2001 und die Kündigung Ihres „Kindes“, des von Ihnen ausgehandelten INF-Vertrags im Sommer 2019. Mittlerweile kann man sagen, dass nahezu Ihr gesamtes abrüstungspolitisches Erbe mutwillig an die Wand gefahren wurde. – Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen, nachdem der Westen und die Sowjetunion im November 1990 doch mit der „Charta von Paris“ das Ende des Kalten Krieges und ein neues Zeitalter der Kooperation verkündet hatten?
- Es wird wieder nuklear aufgerüstet und zwar mit kleineren Sprengköpfen auf immer zielgenaueren Trägersystemen. Zudem werden nuklear bestückbare Hyperschallraketen entwickelt, die während des Anfluges praktisch nicht mehr zu eliminieren sind. Gleichzeitig beginnt die Grenze zwischen Atombomben und konventionellen Waffen immer mehr zu verschwimmen, womit sich die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Einsatzes von atomaren Sprengköpfen drastisch erhöht. Und es werden völlig neue Waffen entwickelt, deren Wirkung gar nicht mehr abzusehen ist: Drohnen, selbstständige Kampfroboter, Künstliche Intelligenz [3], die Militarisierung des Weltraums – ja, am Horizont erscheint die immer realistischere, wenn nicht sogar wahrscheinliche Option, dass angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des gesamten Planeten früher oder später an Computer, an Künstliche Intelligenz, kurz: an Geräte delegiert wird! – Ist die Öffnung der „Büchse der Pandora“ noch rechtzeitig zu verhindern?
- Die gegenwärtige Militarisierung der Weltpolitik findet in unterschiedlichen Regionen und auf unterschiedlichen Ebenen statt. Bezogen auf die neuen kriegerischen Spannungen zwischen der osterweiterten NATO und dem wiedererstarkten Russland könnte man vielleicht von einer „neuen Bipolarität in einer zunehmend multipolarer werdenden Welt“ sprechen. – In Ihrer Sprache müsste man sagen: Es findet gegenwärtig auf allen Ebenen ein dramatischer Rückfall in das alte Denken statt – Diplomatie spielt im Ukrainekrieg so gut wie keine Rolle – und trotzdem regt sich dagegen kaum Widerstand! [4] Haben Sie eine Erklärung, warum diese brandgefährliche Entwicklung mit all ihren unkalkulierbaren Risiken sowohl im Westen wie in Russland fast schicksalsergeben hingenommen wird?
- Müssen wir nicht alle aus der Entwicklung der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte noch eine bittere Lektion lernen: Nämlich, dass auch die hoffnungsvollste Entwicklung wieder umgekehrt werden kann, wenn sie gewissen mächtigen und einflussreichen Kreisen nicht passt? Müssen wir nicht auch für die Zukunft immer wieder mit solch fatalen Rückschlägen rechnen? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus für unser Handeln?
- Es ist nicht sehr angenehm, aber unterziehen wir uns mal der Mühe, die gegenwärtigen Tendenzen – besonders im sich gerade dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieg – konsequent zuende zu denken: Was wird passieren, wenn sich diese Entwicklung bruchlos in die Zukunft verlängert?
Das Versagen der Zivilgesellschaften
- In den Achtziger Jahren gab es in Westeuropa wie in den USA starke Friedensbewegungen ‚von unten‘ [5]. Die Gefahr eines möglichen, gar wahrscheinlichen Atomkriegs war damals den meisten Menschen bewusst und viele waren bereit, dafür auf die Straße zu gehen. – Wie erklären Sie sich, dass dieses Bewusstsein heute völlig verschwunden ist, obwohl Fachleute warnen, die gegenwärtige Situation im Ukrainekrieg sei gefährlicher als während der Kubakrise? Hat vielleicht paradoxerweise Ihre erfolgreiche Politik der atomaren Abrüstung ungewollt dazu geführt, dass viele Menschen in ihrem Kampf gegen die Atombombe nachgelassen haben, weil sie dachten, das Thema hätte sich glücklich erledigt?
- Das zivilgesellschaftliche Engagement der Jugend in der westlichen Welt beschränkt sich gegenwärtig fast ausschließlich auf den Kampf gegen Erderwärmung und Klimakatastrophe. Dass ein Atomkrieg – schon ein ‚begrenzter‘ – nicht nur das Klima, sondern alles Leben auf diesem Planeten am Schnellsten (modisch gesprochen: am Nachhaltigsten) zerstören würde, dass nicht zuletzt die weltweite Aufrüstung dem sensiblen, höchst störungsanfälligen ökologischen Gleichgewicht bereits jetzt möglicherweise irreparable Schäden zufügt, das scheinen Akteure wie Fridays for Future und andere merkwürdigerweise nicht zu sehen! Der Kampf gegen den Klimawandel steht offenkundig dem Kampf gegen atomare und konventionelle Aufrüstung, gegen die Militarisierung der Weltpolitik im Wege, kurz: Die Umweltbewegung ist auf dem rüstungspolitischen Auge blind [6]! – Wie kann in dieser Generation das Bewusstsein geweckt werden, dass der Kampf gegen die Erderwärmung, für die Rettung der Mitwelt und der Kampf gegen die weltweite Aufrüstung und Kriegsgefahr sachlich zusammengehören, genauer: zwei Seiten derselben Medaille sind?

Leo Ensel zusammen mit Stanislaw Petrow. (Foto: © Leo Ensel)
Wege aus der Sackgasse in Rüstung und Politik
Die Ebene der Politik
- Michail Sergejewitsch, die Welt stand während des ersten Kalten Krieges mehrfach am Rande eines alles vernichtenden Atomkrieges. Ich denke an die Kubakrise, mehrfache Beinahunfälle und Fehlalarme wie z.B. am 26. September 1983, als der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow zum Glück die Nerven behielt [7] – überhaupt an die extrem zugespitzte Situation in den Achtziger Jahren, als sich die Vorwarnzeiten auf wenige Minuten dramatisch verkürzt hatten. Damals hat die Welt großes Glück gehabt, weil gerade noch rechtzeitig in der Sowjetunion ein Mann an die Macht kam, dessen Denken nicht nur auf der Höhe des Atomzeitalters war, sondern der auch den Mut und den entschiedenen Willen hatte, daraus die Konsequenzen zu ziehen. – Leider ist ein „neuer Gorbatschow“ gegenwärtig weder in Russland noch in irgendeiner anderen Atommacht in Sicht, obwohl wir uns längst wieder in einer ähnlich brisanten Situation befinden …
- Die Situation heute ist paradox: Im ersten Kalten Krieg betraten Pioniere wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme und Sie komplettes Neuland, indem Sie Wege aus der Konfrontation suchten und diese dann auch mit großem Mut beschritten. Die Beendigung des ersten Kalten Krieges, ohne dass ein einziger Schuss fiel, war eine grandiose epochale Erfolgsgeschichte! – Man könnte denken, dass es heute eigentlich einfacher sein müsste, aus der Eskalationsspirale wieder herauszukommen, da es doch dieses große Vorbild gibt! Aber nochmal: Es gibt gegenwärtig nicht nur auf der Ebene der offiziellen Politik, sondern auch auf Seiten der Zivilgesellschaften anscheinend überhaupt kein Problembewusstsein. Kein Bewusstsein von der Größe der Gefahr! – Wie kann dieses Problembewusstsein auf allen Ebenen wieder geweckt werden, damit die Menschheit nicht schlafwandlerisch in die Totalkatastrophe taumelt?
- Michail Sergejewitsch, Sie haben seit Ihrem (erzwungenen) Rücktritt aus der offiziellen Politik gefühlte hundertmal auf eine atomwaffenfreie Welt gedrängt und entsprechende Konzepte vorgelegt. Geschehen ist seitdem nichts – im Gegenteil, die Lage hat sich weiter verschlechtert: Die Atomwaffenpotenziale werden ‚modernisiert‘ und die Militärdoktrinen entwickeln sich in Richtung eines Ersteinsatzes, gar eines Präventivschlages. – Wie erklären Sie sich, dass all Ihre Appelle und Konzepte – man muss es leider sagen – echolos verhallt sind und welche Konsequenzen gilt es aus dieser (hoffentlich nicht völlig entmutigenden) Erfahrung zu ziehen?
- Die USA und die NATO auf der einen Seite und Russland auf der anderen befinden sich nicht nur in einem brandgefährlichen Stellvertreterkrieg, sondern auch längst wieder in einem dramatischen Rüstungswettlauf. Außer dem New-START-Vertrag, der Anfang 2026 auslaufen wird und den Russland bereits ausgesetzt hat, sind mittlerweile nahezu sämtliche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die zu Zeiten des ersten Kalten Krieges über einen langen Zeitraum mühsam ausgehandelt wurden, Makulatur. NATO-Truppen, darunter auch Soldaten der deutschen Bundeswehr, stehen seit 2016 im Baltikum, wenige hundert Kilometer vor der russischen Haustür entfernt. Parallel dazu kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu sogenannten „Critical Incidents“ („Dangerous Brinkmanships“) zwischen NATO und Russland, vor allem über der Baltischen See und dem Schwarzen Meer. Nun ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine hinzugekommen und im Westen werden Stimmen laut, Soldaten aus NATO-Staaten in die Ukraine zu entsenden… Umgekehrt hat Russland kürzlichst seine Atomwaffendoktrin modifiziert und im November 2024 die neue Hyperschall-Mittelstreckenrakete Oreschnik im Ukrainekrieg erstmals eingesetzt. Mit einem Wort: Das wechselseitige Vertrauen ist auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Und ‚Druck von unten‘ auf die verantwortlichen Politiker in Richtung Deeskalation gibt es ebenfalls nicht. – Wie kann diese extremst gefährliche Eskalationsspirale so schnell wie möglich gestoppt und in ihr Gegenteil verkehrt werden? Welche Schritte müssten kurz- und mittelfristig unternommen werden?
- Michail Sergejewitsch, Sie haben damals die „Erbsenzählerei“ der jahrelang festgefahrenen Genfer Abrüstungsverhandlungen überwunden, indem Sie den Mut hatten, sich vom quantitativen Denken zugunsten eines qualitativen Denkens zu verabschieden und diese „Kopernikanische Wende in der Abrüstungspolitik“ auch durchsetzten. (Und dafür beziehen Sie in Ihrem Lande von vielen Menschen, die dem alten Denken verhaftet sind, ja noch heute Prügel…) – Wie kann bei allen politisch Verantwortlichen das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es darauf ankommt, wieder in qualitativen Kategorien zu denken und entsprechend zu handeln?
- Im Januar 1986 haben Sie – und das war eine weltpolitische Sensation – eine „Roadmap“ zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 vorgelegt. Trotz gewaltiger Abrüstungsschritte im nuklearen Bereich (80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit wurden verschrottet) konnte dieses Ziel damals nicht erreicht werden. Heute haben wir es mit einer größeren Zahl von Atomwaffenstaaten zu tun, die früher oder später noch weiter anwachsen wird, falls diese Entwicklung nicht umgehend gestoppt wird. Dazu kommt die parallele Aufrüstung im konventionellen Bereich und auf dem Gebiet automatisierter Waffen – nicht nur in der NATO und in Russland. – Michail Sergejewitsch, Sie und Ronald Reagan sind die einzigen Menschen, die es jemals geschafft haben, dass atomare Sprengköpfe – und zwar in großem Stil – verschrottet werden konnten. Diese Erfahrung muss unbedingt für die gegenwärtige und die kommenden Generationen genutzt werden! Wenn Sie heute wieder eine Roadmap zu einer atomwaffenfreien Welt, sagen wir: bis zum Jahr 2035, vorlegen würden, wie würde sie aussehen?
- Es gibt in vielen westlichen Ländern, nicht nur in den USA, eine sehr mächtige Rüstungslobby. Sie selbst haben wiederholt von der Gefahr durch den Militärisch-Industriellen Komplex gesprochen. Dieser Komplex wird allen grundlegenden Abrüstungsbemühungen härtesten Widerstand entgegensetzen. – Wie kann man diese Hydra besiegen? Gelingt es vielleicht erst dann, wenn man, biblisch gesprochen, mit „Pflugscharen“ mehr Geld verdienen kann als mit „Schwertern“?
- Ergänzung: Muss man heute angesichts weltweit operierender gigantischer Finanzimperien wie z.B. BlackRock und anderer, die eine unvorstellbare Macht angesammelt haben und damit nicht nur großen Einfluss auf die Industrie und Politik, sondern auch auf die Medien, sprich: die öffentliche Meinung ausüben können, die Formel vom „Militärisch-Industriellen Komplex“ nicht nochmal ganz neu denken und erweitern? Haben wir es heute vielleicht gar mit einem global operierenden Ungetüm, einem unsichtbaren nahezu totalitären „Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex“ zu tun? Und welche Konsequenzen hat das für eine Politik, die weltweite und nachhaltige Abrüstung auf allen Ebenen anstrebt?
- Zweite Ergänzung: In den letzten 250 Jahren hat sich, ausgehend von Europa, ein aggressives Wirtschaftssystem nahezu über den gesamten Globus – seit über drei Jahrzehnten auch in Ihrem Land – ausgebreitet, das ohne Expansion (blumig gesprochen: „Wachstum“) offenbar nicht lebensfähig ist. Mittlerweile gefährdet dieses System der hemmungslosen Expansion und Akkumulation sämtlicher verwertbaren Ressourcen die Existenz unseres Planeten – sei es direkt durch Produktion fürchterlichster Waffensysteme, sei es indirekt durch die Zerstörung der Biosphäre. – Michail Sergejewitsch, Sie sind marxistisch gebildet und zugleich sind Sie der Mann, der dem Kommunismus den Todesstoß versetzt hat: Ist dieses kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt friedensfähig? Ist überhaupt eine „nachhaltige“ oder auch eine sozialdemokratische Marktwirtschaft denkbar, die nicht auf dem System der hemmungslosen Expansion basiert? Wie könnte denn eine Alternative jenseits der marxistischen Utopie aussehen? Und wer könnte sie wie durchsetzen?
- Michail Sergejewitsch, lassen wir uns nun einmal ganz groß denken und uns sehr weit in ein fast utopisches Gebiet vorwagen: Ist Ihrer Meinung nach eine Welt, die nicht nur die Atombombe und andere Massenvernichtungsmittel, sondern auch den Krieg selbst abgeschafft hat, möglich? Was muss geschehen, damit die Völker, damit die Menschen, nochmals biblisch gesprochen, „den Krieg nicht mehr lernen“?
Die Ebene der Zivilgesellschaften (der ‚einfachen Bürger‘)
- In der westdeutschen Friedensbewegung der Achtziger Jahre gab es einen Spruch: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Politikern und Generälen zu überlassen!“ Das heißt: Es ist heute wieder mehr denn je geboten, dass sich auch die so genannten ‚einfachen Bürger‘ in allen Ländern für den Frieden, das heißt: gegen die Bedrohung durch Krieg und Massenvernichtungsmittel, gegen alte und neue Feindbilder und für Dialog und weltweite Abrüstung einsetzen. – Was erwarten Sie in diesem Punkt von den sogenannten ‚einfachen Bürgern‘ – oder wie man heute sagen würde: von den Zivilgesellschaften – aller Länder? Welche Aufgaben haben sie für die Erhaltung des Friedens und für Deeskalation? Und was erwarten Sie vor allem von uns Deutschen? Wir haben Ihnen ja nicht nur Mauerfall und Wiedervereinigung zu verdanken, sondern vor allem die drastische Reduktion der in den Achtziger Jahren sehr akuten Atomkriegsgefahr. Immerhin war die alte Bundesrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges das Land mit der größten Atomwaffendichte der Welt! Beide deutsche Staaten waren das potentielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Falle eines Krieges wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben. Und nun sollen in Deutschland wieder Mittelstreckenraketen stationiert werden, die Moskau und die anderen Städte im Westen Russlands treffen könnten… Daher noch einmal: Was erwarten Sie in dieser akuten hochbrisanten Situation speziell von uns Deutschen?

Der Philosoph Daisaku Ikeda bei einer Verleihung eines Preises durch den engen Berater von Gorbatschow Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, der als Initiator der Reformpolitik, der Perestroika, gilt. In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts trat er in einen intensiven Dialog mit dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. 1998 veröffentlichten beide den nach wie vor lesenswerten Band „Unsere Wege treffen sich am Horizont“. (Foto: / Wikimedia Commons / Gemeinfrei)
Umrisse einer Ethik für das Atomzeitalter und die vernetzte Welt
Zur Aktualität des Neuen Denkens
- Michail Sergejewitsch, mit Ihrer Person hat das Neue Denken, das von Intellektuellen wie Albert Einstein, Bertrand Russell und Günther Anders über Jahrzehnte vorbereitet worden war, erstmals die Ebene der Weltpolitik erreicht. Mich hat, als ich Ihr Buch „Unsere Wegen treffen sich am Horizont“ las, das Sie Ende der Neunziger Jahre zusammen mit dem japanischen buddhistischen Philosophen Daisaku Ikeda veröffentlicht haben, der Gedanke sehr angerührt, dass es Anfang der Achtziger Jahre, als wir Menschen in Westeuropa große Ängste vor einem möglichen Atomkrieg hatten, ausgerechnet im Politbüro der KPdSU Politiker und Wissenschaftler gab, die sich unter anderem intensive Gedanken über eine „Politik der Bergpredigt“ machten! – Wann genau begannen Sie, erste Ansätze des Neuen Denkens zu entwickeln? Was waren Ihre geistigen Quellen und wer waren Ihre Mitarbeiter? Wie muss man sich diesen Prozess eigentlich genau vorstellen?
- Heute ist es still geworden um das Neue Denken, obwohl es nötiger ist denn je. – War der Westen – möglicherweise die ganze Welt – nach dem glücklichen Ende des ersten Kalten Krieges für das Neue Danken nicht reif genug? Wird es heute in Russland vielleicht schrecklicherweise, nachdem der Westen in den Neunziger Jahren die dortige temporäre Schwäche schamlos ausnutzte, gar mit Schwäche gleichgesetzt? Ist es deshalb dort desavouiert?
- Das Neue Denken verlangt von allen Akteuren, über den Tellerrand der eigenen kurzfristigen egoistischen Interessen im Sinne des globalen Ganzen hinauszudenken und entsprechend zu handeln. – So berechtigt das inhaltlich ist: Wie viele Spitzenpolitiker – namentlich der Atommächte – bringen diese Reife auf? Überfordert das Neue Denken vielleicht die meisten politischen Akteure?
- Ergänzung: Wie erklären Sie sich eigentlich, dass es gegenwärtig – genauer: seit Ihrem erzwungenen Abtritt von der politischen Bühne – unter den Spitzenpolitikern nirgends einen Spitzenpolitiker gibt, der sich dem Neuen Denken verschrieben hat? Schlimmer: Dass das Neue Denken auch im öffentlichen Diskurs so gut wie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Dass es, sprechen wir es aus!, nahezu vergessen ist.
- Auch ich denke, dass nur das Neue Denken uns retten kann. Aber es verbreitet sich ja nicht von alleine in der Welt. – Wie kann Ihr epochales Neues Denken an die nächste Politikergeneration weitervererbt werden? Wo sollen die neuen Akteure des Neuen Denkens in der Politik – kurz: die „neuen Gorbatschows“ – herkommen und wie können sie wirkmächtig werden?
- Und was, wenn die jetzt Mächtigen in der Politik, im „Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex“ dem Neuen Denken und seinen Akteuren härtesten Widerstand entgegenbringen?
- Wir sind uns vermutlich einig, dass das Neue Denken nicht nur für Politiker reserviert ist, sondern letztlich alle Menschen beseelen soll, wenn die Menschheit, wenn unser Planet überleben soll. – Kann man das Neue Denken lernen? Und wie kann man es lernen? Sie sagten seinerzeit in Ihrem Gespräch mit Daisaku Ideda: „Um des künftigen Weltfriedens willen muss man dieses globale Bewusstsein in jedem Menschen kultivieren. Darin liegt der Schlüssel zum Kosmopolitismus, zur Überwindung der nationalen Feindschaft, die Kriege hervorbringt.“ Wie kann es kulturübergreifend „in jedem Menschen kultiviert“ werden?
Auf dem Wege zu einer neuen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“
- Michail Sergejewitsch, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir nicht mehr warten können, bis sich das Neue Denken von selbst, am besten weltweit, durchsetzt; wir müssen jetzt etwas dafür tun! Die Maximen des Neuen Denkens – Sie haben selbst oft davon gesprochen – müssen in eine neue Ethik gegossen werden. Und da die Atombombe, die anderen Massenvernichtungsmittel und Waffensysteme ebenso wie die mögliche ökologische Katastrophe über Gläubigen aller Religionen, Agnostikern und Atheisten schweben, kann dies nur – eine gewaltige Aufgabe! – eine überwölbende humanistische Ethik sein, die potenziell für „alle Menschen guten Willens“ akzeptabel ist. Diese Ethik sollte, aufbauend auf Maximen allgemein-menschlicher Werte, auch spezielle „Gebote und Verbote“ für Politiker in verantwortungsvollen Positionen, für Wissenschaftler und Arbeiter, die in einem höchst arbeitsteiligen Prozess Massenvernichtungsmittel wie Atombomben und andere tödliche Waffensysteme konzipieren und herstellen, aber auch für die so genannten ‚einfachen Bürger‘ enthalten. – Wie könnte man (1) die Kerngedanken einer solchen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“ – vielleicht analog zu den berühmten Zehn Geboten, aber religionsneutral – so knapp und allgemeinverständlich wie möglich formulieren? (2) Wie, auf welchen Kanälen, kann die so formulierte humanistische „Ethik des menschlichen Überlebens“ in die Welt geschickt und von den Menschen verinnerlicht werden?
Die Verantwortung aller Menschen
- Sie schreiben oft, was mich tief bewegt, vom „gesundem Menschenverstand“, z.B. in der Außenpolitik. Wohl die wenigsten Intellektuellen, Politiker, gar Chefs einer Supermacht würden sich trauen, so ein Wort in den Mund zu nehmen! Eher würde man Sätze erwarten wie: „Solch komplizierte Themen mit solch weitreichenden Folgen sind nur etwas für Top-Spezialisten, für eine umfassend gebildete und ausgebildete Elite!“ – Was bedeutet es für Sie, wenn Sie sogar im Zusammenhang von Außen- und Rüstungspolitik vom „gesunden Menschenverstand“ sprechen?
- Michail Sergejewitsch, Sie sind ein Mann, der falsche Stärke (Pseudostärke) nicht nötig hat. Und Sie sind ein Mann, der lieben kann. Ich habe mich oft gefragt, was Ihre Politik der atomaren Abrüstung, Ihre Politik von Perestroika und Glasnost und des Neuen Denkens, die der Welt das Ende des ersten Kalten Krieges und Ihrem Land Demokratisierung und Freiheit gebracht hat, wohl der gelungenen Liebe zwischen Ihnen und Ihrer Frau, Raissa Maximowna verdanken mag [8]. – Wollen wir uns jetzt auf das vielleicht gewagteste Feld begeben (es könnte ja in den Ohren von Zynikern fürchterlich naiv und kitschig klingen!) und uns fragen, was eine Politik für die Rettung dieses Planeten mit Liebe – nicht der abstrakten „Liebe zur Menschheit“, sondern der Liebe zu einem ganz konkreten Menschenexemplar aus Fleisch und Blut – zu tun hat? Zum Schluss daher die Kinderfrage: Müssen Menschen, die in der Politik und in anderen Lebensbereichen große Verantwortung tragen, zur Liebe fähig sein – also fähig sein, Liebe zu geben und zu nehmen –, wenn sie in dieser Welt wirksame Schritte zum Besseren unternehmen wollen?
Quellen:
[2] Bundestag, „Charta von Paris für ein Neues Europa“, Paris 1990, <https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf>
[3] Nachdenkseiten, Leo Ensel, „Thesen zur Gefährdung unseres Planeten durch Massenvernichtungsmittel und Künstliche Intelligenz – Plädoyer für eine internationale „Friedensbewegung 2.0““, am 05.07.2023, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=100438>
[4] Free21, Leo Ensel, „Apathie und Schockstarre – Warum bleiben die Ängste vor einer Ausweitung des Krieges stumm und folgenlos?“, am 20.03.2024, <https://free21.org/warum-bleiben-die-aengste-vor-einer-ausweitung-des-krieges-stumm-und-folgenlos/>
[5] Free21, Leo Ensel, „Blick zurück nach vorn: „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen“ (1981) – „Aufstand für Frieden“ (2023)“, am 23.05.2023, <https://free21.org/aufstand-fuer-frieden-2023/>
[6] Free21, Leo Ensel, „Ökopax? – Junge Klimaschützer rüstungspolitisch blind“, am 08.01.2024, <https://free21.org/oekopax-junge-klimaschuetzer-ruestungspolitisch-blind/>
[7] Nachdenkseiten, Leo Ensel, „Stanislaw Petrow oder die Anstrengung der Phantasie – Vor 35 Jahren drohte die atomare Apokalypse“, am 26.09.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=46230>
[8] Free21, Leo Ensel, „Raissa Gorbatschowa – Die Welt ahnt nicht, was sie dieser Frau verdankt!“, am 06.11.2024, <https://free21.org/raissa-gorbatschowa-die-welt-ahnt-nicht-was-sie-dieser-frau-verdankt/>
Oder: Für ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“
Fragen an Michail Gorbatschow und uns alle
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20. August 2019: Unser Autor Leo Ensel im Gespräch mit Michail Gorbatschow in dessen Moskauer Foundation. (Foto: © Leo Ensel)
Das wichtigste politische Erbe, das uns Michail Gorbatschow hinterlassen hat, ist das von ihm mitentwickelte und erstmals in die politische Praxis umgesetzte Neue Denken. Es rückte das alle übrigen Gegensätze überwölbende Menschheitsinteresse in den Vordergrund: das Weiterleben als Gattung. – Heute benötigen wir eine Aktualisierung, ein „Neues Denken 2.0“.
„Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau. Im Allgemeinen bedeutete das Neue Denken in der Außen- wie in der Innenpolitik, dass man versuchte, nach dem gesunden Menschenverstand zu denken und zu handeln.“
So hat Michail Gorbatschow selbst in seinem ‚politischen Testament‘, dem zwei Jahre vor seinem Tode veröffentlichten langen Essay „Perestroika verstehen – Neues Denken verteidigen“ [1], die Grundprinzipien seines Neuen Denkens noch einmal umrissen. Heute, zu Zeiten des sich dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieges und der erneuten wechselseitigen Drohung, im Extremfalle sogar Atomwaffen einzusetzen, sind diese Prinzipien dringlicher denn je. Aber sie bedürfen der Aktualisierung. Ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“ müsste im Sinne seines Hauptprotagonisten weiterdenken und an den aktuellen globalen Tendenzen und menschheitsbedrohenden Gefahren ansetzen.
Der Autor dieses Textes wollte im Herbst 2021 noch zusammen mit Michail Gorbatschow ein Interviewbuch über die Bedingungen eines notwendigen „Neuen Denkens 2.0“ verfassen. Das scheiterte daran, dass der gesundheitlich angeschlagene Friedensnobelpreisträger die beiden letzten Jahre seines Lebens im Krankenhaus der Präsidentialadministration verbringen musste und aufgrund der damaligen Coronalage fast keinen Besuch mehr empfangen konnte. Aber die Fragen an eine Aktualisierung des Neuen Denkens bleiben ja virulent. In welche Richtung die Reise hier gehen sollte, deutet der folgende Text an: Und zwar in Gestalt des – aktualisierten – Leitfadens für die Gespräche, die ich mit Gorbatschow noch führen wollte. Nun liegt es an uns allen, die Antworten darauf selbst zu entwickeln.
Der globale Rückfall in das alte Denken
Die Militarisierung der Weltpolitik und der neue kalte und heiße Krieg
- Michail Sergejewitsch, über drei Jahrzehnte nach der „Charta von Paris“ [2], die nicht zuletzt das Resultat Ihres Neuen Denkens und Handelns war, finden wir uns – unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen – nicht nur in einem neuen kalten, sondern in einem blutigen ‚heißen‘ Krieg zwischen dem kollektiven Westen und Russland auf dem Territorium der Ukraine wieder. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden – und zwar stets auf Betreiben der USA – grundlegende Pfeiler der globalen Architektur der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung eingerissen. Am Bedeutendsten waren sicher die durch nichts provozierte amerikanische Kündigung des ABM-Vertrages Ende 2001 und die Kündigung Ihres „Kindes“, des von Ihnen ausgehandelten INF-Vertrags im Sommer 2019. Mittlerweile kann man sagen, dass nahezu Ihr gesamtes abrüstungspolitisches Erbe mutwillig an die Wand gefahren wurde. – Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen, nachdem der Westen und die Sowjetunion im November 1990 doch mit der „Charta von Paris“ das Ende des Kalten Krieges und ein neues Zeitalter der Kooperation verkündet hatten?
- Es wird wieder nuklear aufgerüstet und zwar mit kleineren Sprengköpfen auf immer zielgenaueren Trägersystemen. Zudem werden nuklear bestückbare Hyperschallraketen entwickelt, die während des Anfluges praktisch nicht mehr zu eliminieren sind. Gleichzeitig beginnt die Grenze zwischen Atombomben und konventionellen Waffen immer mehr zu verschwimmen, womit sich die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Einsatzes von atomaren Sprengköpfen drastisch erhöht. Und es werden völlig neue Waffen entwickelt, deren Wirkung gar nicht mehr abzusehen ist: Drohnen, selbstständige Kampfroboter, Künstliche Intelligenz [3], die Militarisierung des Weltraums – ja, am Horizont erscheint die immer realistischere, wenn nicht sogar wahrscheinliche Option, dass angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des gesamten Planeten früher oder später an Computer, an Künstliche Intelligenz, kurz: an Geräte delegiert wird! – Ist die Öffnung der „Büchse der Pandora“ noch rechtzeitig zu verhindern?
- Die gegenwärtige Militarisierung der Weltpolitik findet in unterschiedlichen Regionen und auf unterschiedlichen Ebenen statt. Bezogen auf die neuen kriegerischen Spannungen zwischen der osterweiterten NATO und dem wiedererstarkten Russland könnte man vielleicht von einer „neuen Bipolarität in einer zunehmend multipolarer werdenden Welt“ sprechen. – In Ihrer Sprache müsste man sagen: Es findet gegenwärtig auf allen Ebenen ein dramatischer Rückfall in das alte Denken statt – Diplomatie spielt im Ukrainekrieg so gut wie keine Rolle – und trotzdem regt sich dagegen kaum Widerstand! [4] Haben Sie eine Erklärung, warum diese brandgefährliche Entwicklung mit all ihren unkalkulierbaren Risiken sowohl im Westen wie in Russland fast schicksalsergeben hingenommen wird?
- Müssen wir nicht alle aus der Entwicklung der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte noch eine bittere Lektion lernen: Nämlich, dass auch die hoffnungsvollste Entwicklung wieder umgekehrt werden kann, wenn sie gewissen mächtigen und einflussreichen Kreisen nicht passt? Müssen wir nicht auch für die Zukunft immer wieder mit solch fatalen Rückschlägen rechnen? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus für unser Handeln?
- Es ist nicht sehr angenehm, aber unterziehen wir uns mal der Mühe, die gegenwärtigen Tendenzen – besonders im sich gerade dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieg – konsequent zuende zu denken: Was wird passieren, wenn sich diese Entwicklung bruchlos in die Zukunft verlängert?
Das Versagen der Zivilgesellschaften
- In den Achtziger Jahren gab es in Westeuropa wie in den USA starke Friedensbewegungen ‚von unten‘ [5]. Die Gefahr eines möglichen, gar wahrscheinlichen Atomkriegs war damals den meisten Menschen bewusst und viele waren bereit, dafür auf die Straße zu gehen. – Wie erklären Sie sich, dass dieses Bewusstsein heute völlig verschwunden ist, obwohl Fachleute warnen, die gegenwärtige Situation im Ukrainekrieg sei gefährlicher als während der Kubakrise? Hat vielleicht paradoxerweise Ihre erfolgreiche Politik der atomaren Abrüstung ungewollt dazu geführt, dass viele Menschen in ihrem Kampf gegen die Atombombe nachgelassen haben, weil sie dachten, das Thema hätte sich glücklich erledigt?
- Das zivilgesellschaftliche Engagement der Jugend in der westlichen Welt beschränkt sich gegenwärtig fast ausschließlich auf den Kampf gegen Erderwärmung und Klimakatastrophe. Dass ein Atomkrieg – schon ein ‚begrenzter‘ – nicht nur das Klima, sondern alles Leben auf diesem Planeten am Schnellsten (modisch gesprochen: am Nachhaltigsten) zerstören würde, dass nicht zuletzt die weltweite Aufrüstung dem sensiblen, höchst störungsanfälligen ökologischen Gleichgewicht bereits jetzt möglicherweise irreparable Schäden zufügt, das scheinen Akteure wie Fridays for Future und andere merkwürdigerweise nicht zu sehen! Der Kampf gegen den Klimawandel steht offenkundig dem Kampf gegen atomare und konventionelle Aufrüstung, gegen die Militarisierung der Weltpolitik im Wege, kurz: Die Umweltbewegung ist auf dem rüstungspolitischen Auge blind [6]! – Wie kann in dieser Generation das Bewusstsein geweckt werden, dass der Kampf gegen die Erderwärmung, für die Rettung der Mitwelt und der Kampf gegen die weltweite Aufrüstung und Kriegsgefahr sachlich zusammengehören, genauer: zwei Seiten derselben Medaille sind?

Leo Ensel zusammen mit Stanislaw Petrow. (Foto: © Leo Ensel)
Wege aus der Sackgasse in Rüstung und Politik
Die Ebene der Politik
- Michail Sergejewitsch, die Welt stand während des ersten Kalten Krieges mehrfach am Rande eines alles vernichtenden Atomkrieges. Ich denke an die Kubakrise, mehrfache Beinahunfälle und Fehlalarme wie z.B. am 26. September 1983, als der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow zum Glück die Nerven behielt [7] – überhaupt an die extrem zugespitzte Situation in den Achtziger Jahren, als sich die Vorwarnzeiten auf wenige Minuten dramatisch verkürzt hatten. Damals hat die Welt großes Glück gehabt, weil gerade noch rechtzeitig in der Sowjetunion ein Mann an die Macht kam, dessen Denken nicht nur auf der Höhe des Atomzeitalters war, sondern der auch den Mut und den entschiedenen Willen hatte, daraus die Konsequenzen zu ziehen. – Leider ist ein „neuer Gorbatschow“ gegenwärtig weder in Russland noch in irgendeiner anderen Atommacht in Sicht, obwohl wir uns längst wieder in einer ähnlich brisanten Situation befinden …
- Die Situation heute ist paradox: Im ersten Kalten Krieg betraten Pioniere wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme und Sie komplettes Neuland, indem Sie Wege aus der Konfrontation suchten und diese dann auch mit großem Mut beschritten. Die Beendigung des ersten Kalten Krieges, ohne dass ein einziger Schuss fiel, war eine grandiose epochale Erfolgsgeschichte! – Man könnte denken, dass es heute eigentlich einfacher sein müsste, aus der Eskalationsspirale wieder herauszukommen, da es doch dieses große Vorbild gibt! Aber nochmal: Es gibt gegenwärtig nicht nur auf der Ebene der offiziellen Politik, sondern auch auf Seiten der Zivilgesellschaften anscheinend überhaupt kein Problembewusstsein. Kein Bewusstsein von der Größe der Gefahr! – Wie kann dieses Problembewusstsein auf allen Ebenen wieder geweckt werden, damit die Menschheit nicht schlafwandlerisch in die Totalkatastrophe taumelt?
- Michail Sergejewitsch, Sie haben seit Ihrem (erzwungenen) Rücktritt aus der offiziellen Politik gefühlte hundertmal auf eine atomwaffenfreie Welt gedrängt und entsprechende Konzepte vorgelegt. Geschehen ist seitdem nichts – im Gegenteil, die Lage hat sich weiter verschlechtert: Die Atomwaffenpotenziale werden ‚modernisiert‘ und die Militärdoktrinen entwickeln sich in Richtung eines Ersteinsatzes, gar eines Präventivschlages. – Wie erklären Sie sich, dass all Ihre Appelle und Konzepte – man muss es leider sagen – echolos verhallt sind und welche Konsequenzen gilt es aus dieser (hoffentlich nicht völlig entmutigenden) Erfahrung zu ziehen?
- Die USA und die NATO auf der einen Seite und Russland auf der anderen befinden sich nicht nur in einem brandgefährlichen Stellvertreterkrieg, sondern auch längst wieder in einem dramatischen Rüstungswettlauf. Außer dem New-START-Vertrag, der Anfang 2026 auslaufen wird und den Russland bereits ausgesetzt hat, sind mittlerweile nahezu sämtliche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die zu Zeiten des ersten Kalten Krieges über einen langen Zeitraum mühsam ausgehandelt wurden, Makulatur. NATO-Truppen, darunter auch Soldaten der deutschen Bundeswehr, stehen seit 2016 im Baltikum, wenige hundert Kilometer vor der russischen Haustür entfernt. Parallel dazu kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu sogenannten „Critical Incidents“ („Dangerous Brinkmanships“) zwischen NATO und Russland, vor allem über der Baltischen See und dem Schwarzen Meer. Nun ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine hinzugekommen und im Westen werden Stimmen laut, Soldaten aus NATO-Staaten in die Ukraine zu entsenden… Umgekehrt hat Russland kürzlichst seine Atomwaffendoktrin modifiziert und im November 2024 die neue Hyperschall-Mittelstreckenrakete Oreschnik im Ukrainekrieg erstmals eingesetzt. Mit einem Wort: Das wechselseitige Vertrauen ist auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Und ‚Druck von unten‘ auf die verantwortlichen Politiker in Richtung Deeskalation gibt es ebenfalls nicht. – Wie kann diese extremst gefährliche Eskalationsspirale so schnell wie möglich gestoppt und in ihr Gegenteil verkehrt werden? Welche Schritte müssten kurz- und mittelfristig unternommen werden?
- Michail Sergejewitsch, Sie haben damals die „Erbsenzählerei“ der jahrelang festgefahrenen Genfer Abrüstungsverhandlungen überwunden, indem Sie den Mut hatten, sich vom quantitativen Denken zugunsten eines qualitativen Denkens zu verabschieden und diese „Kopernikanische Wende in der Abrüstungspolitik“ auch durchsetzten. (Und dafür beziehen Sie in Ihrem Lande von vielen Menschen, die dem alten Denken verhaftet sind, ja noch heute Prügel…) – Wie kann bei allen politisch Verantwortlichen das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es darauf ankommt, wieder in qualitativen Kategorien zu denken und entsprechend zu handeln?
- Im Januar 1986 haben Sie – und das war eine weltpolitische Sensation – eine „Roadmap“ zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 vorgelegt. Trotz gewaltiger Abrüstungsschritte im nuklearen Bereich (80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit wurden verschrottet) konnte dieses Ziel damals nicht erreicht werden. Heute haben wir es mit einer größeren Zahl von Atomwaffenstaaten zu tun, die früher oder später noch weiter anwachsen wird, falls diese Entwicklung nicht umgehend gestoppt wird. Dazu kommt die parallele Aufrüstung im konventionellen Bereich und auf dem Gebiet automatisierter Waffen – nicht nur in der NATO und in Russland. – Michail Sergejewitsch, Sie und Ronald Reagan sind die einzigen Menschen, die es jemals geschafft haben, dass atomare Sprengköpfe – und zwar in großem Stil – verschrottet werden konnten. Diese Erfahrung muss unbedingt für die gegenwärtige und die kommenden Generationen genutzt werden! Wenn Sie heute wieder eine Roadmap zu einer atomwaffenfreien Welt, sagen wir: bis zum Jahr 2035, vorlegen würden, wie würde sie aussehen?
- Es gibt in vielen westlichen Ländern, nicht nur in den USA, eine sehr mächtige Rüstungslobby. Sie selbst haben wiederholt von der Gefahr durch den Militärisch-Industriellen Komplex gesprochen. Dieser Komplex wird allen grundlegenden Abrüstungsbemühungen härtesten Widerstand entgegensetzen. – Wie kann man diese Hydra besiegen? Gelingt es vielleicht erst dann, wenn man, biblisch gesprochen, mit „Pflugscharen“ mehr Geld verdienen kann als mit „Schwertern“?
- Ergänzung: Muss man heute angesichts weltweit operierender gigantischer Finanzimperien wie z.B. BlackRock und anderer, die eine unvorstellbare Macht angesammelt haben und damit nicht nur großen Einfluss auf die Industrie und Politik, sondern auch auf die Medien, sprich: die öffentliche Meinung ausüben können, die Formel vom „Militärisch-Industriellen Komplex“ nicht nochmal ganz neu denken und erweitern? Haben wir es heute vielleicht gar mit einem global operierenden Ungetüm, einem unsichtbaren nahezu totalitären „Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex“ zu tun? Und welche Konsequenzen hat das für eine Politik, die weltweite und nachhaltige Abrüstung auf allen Ebenen anstrebt?
- Zweite Ergänzung: In den letzten 250 Jahren hat sich, ausgehend von Europa, ein aggressives Wirtschaftssystem nahezu über den gesamten Globus – seit über drei Jahrzehnten auch in Ihrem Land – ausgebreitet, das ohne Expansion (blumig gesprochen: „Wachstum“) offenbar nicht lebensfähig ist. Mittlerweile gefährdet dieses System der hemmungslosen Expansion und Akkumulation sämtlicher verwertbaren Ressourcen die Existenz unseres Planeten – sei es direkt durch Produktion fürchterlichster Waffensysteme, sei es indirekt durch die Zerstörung der Biosphäre. – Michail Sergejewitsch, Sie sind marxistisch gebildet und zugleich sind Sie der Mann, der dem Kommunismus den Todesstoß versetzt hat: Ist dieses kapitalistische Wirtschaftssystem überhaupt friedensfähig? Ist überhaupt eine „nachhaltige“ oder auch eine sozialdemokratische Marktwirtschaft denkbar, die nicht auf dem System der hemmungslosen Expansion basiert? Wie könnte denn eine Alternative jenseits der marxistischen Utopie aussehen? Und wer könnte sie wie durchsetzen?
- Michail Sergejewitsch, lassen wir uns nun einmal ganz groß denken und uns sehr weit in ein fast utopisches Gebiet vorwagen: Ist Ihrer Meinung nach eine Welt, die nicht nur die Atombombe und andere Massenvernichtungsmittel, sondern auch den Krieg selbst abgeschafft hat, möglich? Was muss geschehen, damit die Völker, damit die Menschen, nochmals biblisch gesprochen, „den Krieg nicht mehr lernen“?
Die Ebene der Zivilgesellschaften (der ‚einfachen Bürger‘)
- In der westdeutschen Friedensbewegung der Achtziger Jahre gab es einen Spruch: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Politikern und Generälen zu überlassen!“ Das heißt: Es ist heute wieder mehr denn je geboten, dass sich auch die so genannten ‚einfachen Bürger‘ in allen Ländern für den Frieden, das heißt: gegen die Bedrohung durch Krieg und Massenvernichtungsmittel, gegen alte und neue Feindbilder und für Dialog und weltweite Abrüstung einsetzen. – Was erwarten Sie in diesem Punkt von den sogenannten ‚einfachen Bürgern‘ – oder wie man heute sagen würde: von den Zivilgesellschaften – aller Länder? Welche Aufgaben haben sie für die Erhaltung des Friedens und für Deeskalation? Und was erwarten Sie vor allem von uns Deutschen? Wir haben Ihnen ja nicht nur Mauerfall und Wiedervereinigung zu verdanken, sondern vor allem die drastische Reduktion der in den Achtziger Jahren sehr akuten Atomkriegsgefahr. Immerhin war die alte Bundesrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges das Land mit der größten Atomwaffendichte der Welt! Beide deutsche Staaten waren das potentielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Falle eines Krieges wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben. Und nun sollen in Deutschland wieder Mittelstreckenraketen stationiert werden, die Moskau und die anderen Städte im Westen Russlands treffen könnten… Daher noch einmal: Was erwarten Sie in dieser akuten hochbrisanten Situation speziell von uns Deutschen?

Der Philosoph Daisaku Ikeda bei einer Verleihung eines Preises durch den engen Berater von Gorbatschow Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, der als Initiator der Reformpolitik, der Perestroika, gilt. In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts trat er in einen intensiven Dialog mit dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. 1998 veröffentlichten beide den nach wie vor lesenswerten Band „Unsere Wege treffen sich am Horizont“. (Foto: / Wikimedia Commons / Gemeinfrei)
Umrisse einer Ethik für das Atomzeitalter und die vernetzte Welt
Zur Aktualität des Neuen Denkens
- Michail Sergejewitsch, mit Ihrer Person hat das Neue Denken, das von Intellektuellen wie Albert Einstein, Bertrand Russell und Günther Anders über Jahrzehnte vorbereitet worden war, erstmals die Ebene der Weltpolitik erreicht. Mich hat, als ich Ihr Buch „Unsere Wegen treffen sich am Horizont“ las, das Sie Ende der Neunziger Jahre zusammen mit dem japanischen buddhistischen Philosophen Daisaku Ikeda veröffentlicht haben, der Gedanke sehr angerührt, dass es Anfang der Achtziger Jahre, als wir Menschen in Westeuropa große Ängste vor einem möglichen Atomkrieg hatten, ausgerechnet im Politbüro der KPdSU Politiker und Wissenschaftler gab, die sich unter anderem intensive Gedanken über eine „Politik der Bergpredigt“ machten! – Wann genau begannen Sie, erste Ansätze des Neuen Denkens zu entwickeln? Was waren Ihre geistigen Quellen und wer waren Ihre Mitarbeiter? Wie muss man sich diesen Prozess eigentlich genau vorstellen?
- Heute ist es still geworden um das Neue Denken, obwohl es nötiger ist denn je. – War der Westen – möglicherweise die ganze Welt – nach dem glücklichen Ende des ersten Kalten Krieges für das Neue Danken nicht reif genug? Wird es heute in Russland vielleicht schrecklicherweise, nachdem der Westen in den Neunziger Jahren die dortige temporäre Schwäche schamlos ausnutzte, gar mit Schwäche gleichgesetzt? Ist es deshalb dort desavouiert?
- Das Neue Denken verlangt von allen Akteuren, über den Tellerrand der eigenen kurzfristigen egoistischen Interessen im Sinne des globalen Ganzen hinauszudenken und entsprechend zu handeln. – So berechtigt das inhaltlich ist: Wie viele Spitzenpolitiker – namentlich der Atommächte – bringen diese Reife auf? Überfordert das Neue Denken vielleicht die meisten politischen Akteure?
- Ergänzung: Wie erklären Sie sich eigentlich, dass es gegenwärtig – genauer: seit Ihrem erzwungenen Abtritt von der politischen Bühne – unter den Spitzenpolitikern nirgends einen Spitzenpolitiker gibt, der sich dem Neuen Denken verschrieben hat? Schlimmer: Dass das Neue Denken auch im öffentlichen Diskurs so gut wie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Dass es, sprechen wir es aus!, nahezu vergessen ist.
- Auch ich denke, dass nur das Neue Denken uns retten kann. Aber es verbreitet sich ja nicht von alleine in der Welt. – Wie kann Ihr epochales Neues Denken an die nächste Politikergeneration weitervererbt werden? Wo sollen die neuen Akteure des Neuen Denkens in der Politik – kurz: die „neuen Gorbatschows“ – herkommen und wie können sie wirkmächtig werden?
- Und was, wenn die jetzt Mächtigen in der Politik, im „Finanzpolitisch-Militärisch-Industriell-Medialen Komplex“ dem Neuen Denken und seinen Akteuren härtesten Widerstand entgegenbringen?
- Wir sind uns vermutlich einig, dass das Neue Denken nicht nur für Politiker reserviert ist, sondern letztlich alle Menschen beseelen soll, wenn die Menschheit, wenn unser Planet überleben soll. – Kann man das Neue Denken lernen? Und wie kann man es lernen? Sie sagten seinerzeit in Ihrem Gespräch mit Daisaku Ideda: „Um des künftigen Weltfriedens willen muss man dieses globale Bewusstsein in jedem Menschen kultivieren. Darin liegt der Schlüssel zum Kosmopolitismus, zur Überwindung der nationalen Feindschaft, die Kriege hervorbringt.“ Wie kann es kulturübergreifend „in jedem Menschen kultiviert“ werden?
Auf dem Wege zu einer neuen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“
- Michail Sergejewitsch, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir nicht mehr warten können, bis sich das Neue Denken von selbst, am besten weltweit, durchsetzt; wir müssen jetzt etwas dafür tun! Die Maximen des Neuen Denkens – Sie haben selbst oft davon gesprochen – müssen in eine neue Ethik gegossen werden. Und da die Atombombe, die anderen Massenvernichtungsmittel und Waffensysteme ebenso wie die mögliche ökologische Katastrophe über Gläubigen aller Religionen, Agnostikern und Atheisten schweben, kann dies nur – eine gewaltige Aufgabe! – eine überwölbende humanistische Ethik sein, die potenziell für „alle Menschen guten Willens“ akzeptabel ist. Diese Ethik sollte, aufbauend auf Maximen allgemein-menschlicher Werte, auch spezielle „Gebote und Verbote“ für Politiker in verantwortungsvollen Positionen, für Wissenschaftler und Arbeiter, die in einem höchst arbeitsteiligen Prozess Massenvernichtungsmittel wie Atombomben und andere tödliche Waffensysteme konzipieren und herstellen, aber auch für die so genannten ‚einfachen Bürger‘ enthalten. – Wie könnte man (1) die Kerngedanken einer solchen humanistischen „Ethik des menschlichen Überlebens“ – vielleicht analog zu den berühmten Zehn Geboten, aber religionsneutral – so knapp und allgemeinverständlich wie möglich formulieren? (2) Wie, auf welchen Kanälen, kann die so formulierte humanistische „Ethik des menschlichen Überlebens“ in die Welt geschickt und von den Menschen verinnerlicht werden?
Die Verantwortung aller Menschen
- Sie schreiben oft, was mich tief bewegt, vom „gesundem Menschenverstand“, z.B. in der Außenpolitik. Wohl die wenigsten Intellektuellen, Politiker, gar Chefs einer Supermacht würden sich trauen, so ein Wort in den Mund zu nehmen! Eher würde man Sätze erwarten wie: „Solch komplizierte Themen mit solch weitreichenden Folgen sind nur etwas für Top-Spezialisten, für eine umfassend gebildete und ausgebildete Elite!“ – Was bedeutet es für Sie, wenn Sie sogar im Zusammenhang von Außen- und Rüstungspolitik vom „gesunden Menschenverstand“ sprechen?
- Michail Sergejewitsch, Sie sind ein Mann, der falsche Stärke (Pseudostärke) nicht nötig hat. Und Sie sind ein Mann, der lieben kann. Ich habe mich oft gefragt, was Ihre Politik der atomaren Abrüstung, Ihre Politik von Perestroika und Glasnost und des Neuen Denkens, die der Welt das Ende des ersten Kalten Krieges und Ihrem Land Demokratisierung und Freiheit gebracht hat, wohl der gelungenen Liebe zwischen Ihnen und Ihrer Frau, Raissa Maximowna verdanken mag [8]. – Wollen wir uns jetzt auf das vielleicht gewagteste Feld begeben (es könnte ja in den Ohren von Zynikern fürchterlich naiv und kitschig klingen!) und uns fragen, was eine Politik für die Rettung dieses Planeten mit Liebe – nicht der abstrakten „Liebe zur Menschheit“, sondern der Liebe zu einem ganz konkreten Menschenexemplar aus Fleisch und Blut – zu tun hat? Zum Schluss daher die Kinderfrage: Müssen Menschen, die in der Politik und in anderen Lebensbereichen große Verantwortung tragen, zur Liebe fähig sein – also fähig sein, Liebe zu geben und zu nehmen –, wenn sie in dieser Welt wirksame Schritte zum Besseren unternehmen wollen?
Quellen:
[2] Bundestag, „Charta von Paris für ein Neues Europa“, Paris 1990, <https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf>
[3] Nachdenkseiten, Leo Ensel, „Thesen zur Gefährdung unseres Planeten durch Massenvernichtungsmittel und Künstliche Intelligenz – Plädoyer für eine internationale „Friedensbewegung 2.0““, am 05.07.2023, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=100438>
[4] Free21, Leo Ensel, „Apathie und Schockstarre – Warum bleiben die Ängste vor einer Ausweitung des Krieges stumm und folgenlos?“, am 20.03.2024, <https://free21.org/warum-bleiben-die-aengste-vor-einer-ausweitung-des-krieges-stumm-und-folgenlos/>
[5] Free21, Leo Ensel, „Blick zurück nach vorn: „Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen“ (1981) – „Aufstand für Frieden“ (2023)“, am 23.05.2023, <https://free21.org/aufstand-fuer-frieden-2023/>
[6] Free21, Leo Ensel, „Ökopax? – Junge Klimaschützer rüstungspolitisch blind“, am 08.01.2024, <https://free21.org/oekopax-junge-klimaschuetzer-ruestungspolitisch-blind/>
[7] Nachdenkseiten, Leo Ensel, „Stanislaw Petrow oder die Anstrengung der Phantasie – Vor 35 Jahren drohte die atomare Apokalypse“, am 26.09.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=46230>
[8] Free21, Leo Ensel, „Raissa Gorbatschowa – Die Welt ahnt nicht, was sie dieser Frau verdankt!“, am 06.11.2024, <https://free21.org/raissa-gorbatschowa-die-welt-ahnt-nicht-was-sie-dieser-frau-verdankt/>