Ayşenur Ezgi Eygi, eine türkisch-US-amerikanische Aktivistin, wurde von einem Soldaten der israelischen Armee ermordet. (Foto: links und rechts: Youtube / Anadolu Ajansı / Screenshots: <https://www.youtube.com/watch?v=yeyqwyNWLqc> ; Mitte: Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0)
An den israelischen Soldaten, der Ayşenur Ezgi Eygi ermordete
Ich kenne dich. Ich habe dich unter dem dichten Blätterdach im Krieg in El Salvador getroffen [1]. Dort hörte ich zum ersten Mal das einzelne, hohe Knacken einer Scharfschützenkugel. Deutlich. Unheilvoll. Ein Geräusch, das Schrecken verbreitet. Armeeeinheiten, mit denen ich unterwegs war, waren wütend über die tödliche Treffsicherheit der Rebellen-Scharfschützen, machten schwere Maschinengewehre vom Kaliber .50 bereit und beschossen das Laubwerk über uns, bis dein Körper, ein blutiger und zerfetzter Brei, zu Boden fiel.
Ich habe dich bei deiner Arbeit in Basra im Irak [2] und natürlich in Gaza [3] gesehen, wo du an einem Herbstnachmittag an der Netzarim-Kreuzung einen jungen Mann erschossen hast, nur wenige Meter von mir entfernt. Wir trugen seinen schlaffen Körper die Straße hinauf.
Ich habe mit dir während des Krieges in Sarajevo gelebt [4]. Du warst nur ein paar hundert Meter entfernt und hast in Hochhäusern gesessen, von denen du auf die Stadt hinabgeschaut hast. Ich war Zeuge deines täglichen Gemetzels. Bei Einbruch der Dunkelheit sah ich, wie du im Dunkeln einen Schuss auf einen alten Mann und seine Frau abgefeuert hast, die sich über ihr winziges Gemüsebeet beugten. Du hattest dein Ziel verfehlt. Sie lief, stockend, in Deckung. Er nicht. Du hast erneut gefeuert. Ich gebe zu, dass das Licht schwand. Es war schwer etwas zu sehen. Beim dritten Mal hast du ihn getötet. Das ist eine dieser Kriegserinnerungen, die ich immer und immer wieder vor meinem inneren Auge sehe, über die ich aber nie spreche. Ich habe es von der Rückseite des Holiday Inn aus beobachtet, aber inzwischen habe ich es, oder die Schatten davon, hunderte Male gesehen.
Du hattest es auch auf mich abgesehen. Du hast Kollegen und Freunde niedergestreckt. Ich war in deinem Visier als ich mit 600 Kämpfern der kosovarischen Befreiungsarmee von Nordalbanien in den Kosovo reiste [5], wobei jeder Aufständische eine zusätzliche AK-47 bei sich trug, um sie einem Kameraden zu übergeben. Drei Schüsse. Dieses knackende Geräusch, das so vertraut war. Du musst weit weg gewesen sein. Oder vielleicht warst du ein schlechter Schütze, obwohl du nah dran warst. Ich kroch hinter einen Felsen in Deckung. Meine beiden Leibwächter beugten sich keuchend über mich, die grünen, mit Granaten gefüllten Beutel an ihrer Brust festgeschnallt.
Ich weiß, wie du redest. Der schwarze Humor. „Winzige Terroristen“ nennst du die Kinder, die du tötest. Du bist stolz auf deine Fähigkeiten. Das verleiht dir Ansehen. Du wiegst deine Waffe in der Hand, als wäre sie eine Verlängerung deines Körpers. Du bewunderst ihre abscheuliche Schönheit. Das ist es, was du bist. Ein Mörder.
In deiner Gesellschaft von Mördern wirst du respektiert, belohnt und befördert. Du bist abgestumpft gegenüber dem Leid, das du verursachst. Vielleicht genießt du es. Vielleicht denkst du, dass du dich selbst, deine Identität, deine Kameraden, deine Nation schützt. Vielleicht glaubst du, dass das Töten ein notwendiges Übel ist – eine Möglichkeit, sicherzustellen, dass Palästinenser sterben, bevor sie zuschlagen können. Vielleicht hast du deine Moral dem blinden Gehorsam des Militärs geopfert und dich in die industrielle Maschinerie des Todes eingereiht. Vielleicht hast du Angst zu sterben. Vielleicht willst du dich selbst und anderen beweisen, dass du hart im Nehmen bist und töten kannst. Vielleicht ist dein Geist so verzerrt, dass du glaubst, das Töten sei gerechtfertigt.
Du bist berauscht von der gottgleichen Macht, einer anderen Person das Recht zu entziehen, auf dieser Erde zu leben. Du genießt die Intimität des Ganzen. Du siehst die Nase und den Mund deines Opfers durch das Zielfernrohr bis ins kleinste Detail. Das Dreieck des Todes. Du hältst den Atem an. Du drückst langsam und vorsichtig den Abzug durch. Und dann der rosa Rauch. Durchtrennte Wirbelsäule. Tod. Es ist vorbei.
Du warst die letzte Person, die Ayşenur lebend gesehen hat. Du warst die erste Person, die sie tot gesehen hat.
Das bist du jetzt. Und jetzt kann dich niemand erreichen. Du bist der Todesengel. Du bist taub und kalt. Aber ich vermute, dass das nicht so bleibt. Ich habe lange über den Krieg berichtet. Ich kenne das nächste Kapitel deines Lebens, auch wenn du es nicht kennst. Ich weiß, was passiert, wenn du die Arme des Militärs verlässt, wenn du kein Rädchen mehr in diesen Todesfabriken bist. Ich kenne die Hölle, in die du eintreten wirst.
Es beginnt so: Alle Fähigkeiten, die du dir als Mörder da draußen angeeignet hast, sind nutzlos. Vielleicht gehst du zurück. Vielleicht wirst du zu einem Auftragskiller. Aber das wird das Unvermeidliche nur hinauszögern. Du kannst eine Weile davonlaufen, aber nicht für immer. Es wird eine Abrechnung geben. Und von dieser Abrechnung will ich dir erzählen.
Du wirst vor einer Wahl stehen. Du kannst den Rest deines Lebens verkrüppelt, gefühllos, von dir selbst und von den Menschen in deiner Umgebung abgeschnitten leben. Du kannst in einen psychopathischen Nebel hinabsteigen, gefangen in einem Netz absurder Lügen, die Massenmord rechtfertigen. Es gibt Mörder, die Jahre später sagen, dass sie stolz auf ihre Arbeit sind und behaupten, sie hätten keinen Moment bereut. Aber ich habe nicht in ihren Albträumen gelebt. Wenn du so bist, wirst du nie wieder wirklich leben.
Natürlich redest du nicht mit den Menschen in deiner Umgebung darüber, was du getan hast, schon gar nicht mit deiner Familie [6]. Sie denken, du bist ein guter Mensch. Du weißt, dass das eine Lüge ist. Die Taubheit lässt normalerweise nach. Du schaust in den Spiegel, und wenn du noch einen Funken Gewissen hast, stört dich dein Spiegelbild. Aber du unterdrückst die Bitterkeit. Du flüchtest in den Kaninchenbau der Opioide und des Alkohols. Deine intimen Beziehungen scheitern, weil du nichts fühlen kannst, weil du deinen Selbsthass vergräbst. Diese Flucht funktioniert. Eine Zeit lang. Aber dann gerätst du in eine solche Dunkelheit, dass die Stimulanzien, die du zur Schmerzlinderung einnimmst, beginnen, dich zu zerstören. Und vielleicht stirbst du auf diese Weise. Ich habe viele gekannt, die so gestorben sind. Und ich habe diejenigen gekannt, die es schnell beendet haben. Eine Waffe an den Kopf.
Zwischen 1973 und 2024 begingen laut offiziellen Statistiken 1.227 israelische Soldaten Selbstmord [7], doch die tatsächliche Zahl liegt vermutlich weitaus höher. In den USA begehen täglich durchschnittlich 16 Veteranen Selbstmord [8].
Ich habe ein Kriegstrauma. Aber das schlimmste Trauma habe ich nicht. Das schlimmste Trauma des Krieges ist nicht das, was man gesehen hat. Es ist nicht das, was man erlebt hat. Das schlimmste Trauma ist das, was man getan hat. Es gibt Namen dafür. Moralische Verletzung. Von Tätern verursachter traumatischer Stress. Aber das scheint harmlos zu sein, angesichts der heißen, brennenden Kohlen der Wut, der nächtlichen Schrecken, der Verzweiflung. Die Menschen in deiner Umgebung wissen, dass etwas schrecklich, schrecklich falsch ist. Sie fürchten deine Dunkelheit. Aber du lässt sie nicht in dein Labyrinth des Schmerzes.
Und dann, eines Tages, streckst du die Hand nach Liebe aus. Liebe ist das Gegenteil von Krieg. Krieg bedeutet Schmutz. Er bedeutet Pornografie. Er bedeutet, andere Menschen zu Objekten zu machen, vielleicht zu sexuellen Objekten, aber ich meine das auch wörtlich, denn Krieg verwandelt Menschen in Leichen. Leichen sind das Endprodukt des Krieges, das, was vom Fließband kommt. Du wirst dich also nach Liebe sehnen, aber der Todesengel hat einen faustischen Pakt geschlossen. Die Sache ist die: Es ist die Hölle, nicht fähig zu sein, zu lieben. Diesen Tod trägst du für den Rest deines Lebens in dir. Er zerfrisst deine Seele. Ja. Wir haben Seelen. Du hast deine verkauft. Und der Preis ist sehr, sehr hoch. Es bedeutet, dass du das, was du dir wünschst, was du im Leben am dringendsten brauchst, nicht haben kannst.
Dann eines Tages, du bist vielleicht Vater oder Mutter oder Onkel oder Tante, tritt eine junge Frau in dein Leben, die du liebst oder die du wie deine Tochter lieben willst. Du siehst in ihr – es wird wie ein Blitz einschlagen – Ayşenurs Gesicht. Die junge Frau, die du ermordet hast. Sie ist wieder zum Leben erwacht. Jetzt ist sie Israelin. Sie spricht Hebräisch. Unschuldig. Gut. Voller Hoffnung. Die ganze Wucht dessen, was du getan hast, wer du warst, wer du bist, wird dich wie eine Lawine treffen.
Du wirst tagelang weinen wollen, ohne zu wissen, warum. Du wirst von Schuldgefühlen verzehrt werden. Du wirst glauben, dass das Leben dieser anderen jungen Frau aufgrund dessen, was du getan hast, in Gefahr ist. Göttliche Vergeltung. Du wirst dir sagen, dass dies absurd ist, aber du wirst es trotzdem glauben. Dein Leben wird beginnen, kleine Opfergaben des Guten für andere zu beinhalten, als ob diese Opfergaben einen rachsüchtigen Gott besänftigen würden, als ob diese Opfergaben Ayşenur vor Leid und Tod bewahren würden. Aber nichts kann den Makel des Mordes tilgen.
Ja. Du hast Ayşenur getötet [9]. Du hast andere getötet. Palästinenser, die du entmenschlichst und dir selbst beigebracht hast zu hassen. Menschliche Tiere. Terroristen. Barbaren. Aber es ist schwieriger, sie zu entmenschlichen. Du weißt – denn das hast du durch dein Zielfernrohr gesehen –, dass sie keine Bedrohung war. Sie hat keine Steine geworfen – die armselige Rechtfertigung, die die israelische Armee benutzt, um mit scharfer Munition auf Palästinenser zu schießen, auch auf Kinder.
Die Reue wird dich überwältigen. Bedauern. Scham. Kummer. Verzweiflung. Entfremdung. Du wirst eine existenzielle Krise erleben. Du wirst wissen, dass all die Werte, die dir in der Schule, im Gottesdienst, zu Hause gelehrt wurden, nicht die Werte sind, die du hochgehalten hast. Du wirst dich selbst hassen. Du wirst das nicht laut aussprechen. Du wirst dich auf die eine oder andere Weise selbst auslöschen.
Ein Teil von mir sagt, dass du diese Qual verdient hast. Ein Teil von mir möchte, dass du für den Verlust leidest, den du Ayşenurs Familie und Freunden zugefügt hast. Dass du dafür bezahlst, dass du das Leben dieser mutigen und begabten Frau genommen hast.
Auf unbewaffnete Menschen zu schießen ist nicht mutig. Es ist nicht tapfer. Es ist nicht einmal Krieg. Es ist ein Verbrechen. Es ist Mord. Du bist ein Mörder. Ich bin sicher, dass dir nicht befohlen wurde, Ayşenur zu töten. Du hast Ayşenur in den Kopf geschossen, weil du es konntest, weil du Lust dazu hattest [10]. Israel betreibt in Gaza und im Westjordanland eine Schießbude unter freiem Himmel. Völlige Straflosigkeit. Mord als Sport.
Eines Tages wirst du nicht mehr der Mörder sein, der du jetzt bist. Du wirst dich mit dem Versuch, deine Dämonen loszuwerden, völlig entkräften. Du wirst dich verzweifelt danach sehnen, ein Mensch zu sein. Du wirst lieben und geliebt werden wollen. Vielleicht schaffst du es. Wieder ein Mensch zu sein. Aber das bedeutet ein Leben in Reue. Es bedeutet, dein Verbrechen öffentlich zu machen. Es bedeutet, auf Knien um Vergebung zu bitten. Es bedeutet, sich selbst zu vergeben. Das ist sehr schwer. Es bedeutet, jeden Aspekt deines Lebens darauf auszurichten, Leben zu fördern, statt es auszulöschen. Dies ist deine einzige Hoffnung auf Erlösung. Wenn du sie nicht ergreifst, bist du verdammt.
Dieser Text wurde zuerst am 17.09.2024 auf www.chrishedges.substack.com unter der URL <https://chrishedges.substack.com/p/to-the-israeli-soldier-who-murdered-db6> veröffentlicht. Lizenz: Chris Hedges, CC BY-NC-ND 4.0
Quellen:
[2] The New York Times, Chris Hedges, „AFTER THE WAR: Captives; 40 Journalists and 2 G.I.’s Go Free After Week’s Ordeal“, am 10.03.1991, <https://www.nytimes.com/1991/03/10/world/after-the-war-captives-40-journalists-and-2-gi-s-go-free-after-week-s-ordeal.html?searchResultPosition=2>
[3] Harper´s Magazine, Chris Hedges, „A Gaza Diary“, Oktober 2001, <https://web.archive.org/web/20020618223550/http://www.bintjbeil.com/articles/en/011001_hedges.html>
[4] The New York Times, Chris Hedges, „CONFLICT IN THE BALKANS: THE PEOPLE; War Turns Sarajevo Away From Europe“, am 28.07.1995, <https://www.nytimes.com/1995/07/28/world/conflict-in-the-balkans-the-people-war-turns-sarajevo-away-from-europe.html>
[5] Foreign Affairs, Chris Hedges, „Kosovo’s Next Masters?“, am 01.05.1999, <https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/1999-05-01/kosovos-next-masters>
[6] X, Quds News Network, „Watch: Former Israeli soldiers of the Alexandroni Brigade recount Israel’s ethnic cleansing of Tantura village, where as many as 240 Palestinians were murdered by the soldiers, during the 1948 Nakba.“, am 14.12.2022, <https://x.com/QudsNen/status/1603045175366127616/video/1>
[7] Middle East Monitor, Aziz Mustafa, „The occupation army is being affected seriously by suicide, low morale and mental illness“, am 25.06.2024, <https://www.middleeastmonitor.com/20240625-the-occupation-army-is-being-affected-seriously-by-suicide-low-morale-and-mental-illness/>
[8] American Addiction Center, Charles R. Hooper, „Suicide Among Veterans“, am 23.08.2024, <https://americanaddictioncenters.org/veterans/suicide-among-veterans>
[9] Al Jazeera, „What’s being said about Israel killing Turkish-American activist Aysenur?“, am 13.09.2024, <https://www.aljazeera.com/news/2024/9/13/whats-being-said-about-israel-killing-aysenur-turkish-american-activist>
[10] Electronic Intifada, Maureen Clare Murphy, „Witness: Israeli troops in West Bank intentionally killed US activist“, am 07.09.2024, <https://electronicintifada.net/blogs/maureen-clare-murphy/witness-israeli-troops-west-bank-intentionally-killed-us-activist>